Wenn das Essen das Leben bestimmt LVR-Klinik in Bonn behandelt Essstörungen

Bonn · Livia war 14 und mit ihrem Körper unzufrieden. Sie begann, weniger zu essen, um abzunehmen. Die Folge war Magersucht. In der LVR-Klinik Bonn werden verschiedene Esstörungen behandelt. Ein Einblick.

 In der Genfer Ausstellung „Teenage Body Struggles“, die sich mit Essstörungen bei Jugendlichen befasst, wirft eine Besucherin einen Blick in einen Spiegel, der ihre Figur so verzerrt, als ob sie magersüchtig wäre.

In der Genfer Ausstellung „Teenage Body Struggles“, die sich mit Essstörungen bei Jugendlichen befasst, wirft eine Besucherin einen Blick in einen Spiegel, der ihre Figur so verzerrt, als ob sie magersüchtig wäre.

Foto: picture alliance / dpa

„Irgendwann wollte ich es stoppen, habe es aber nicht mehr geschafft“, sagt sie. „Ich war nicht mehr daran gewöhnt, genug zu essen, und wurde viel zu schnell satt. Und wenn ich doch mal etwas gegessen hatte, war ich doch nicht zufrieden.“

Solche Verläufe sind für Magersucht typisch, sagt Professorin Dr. Judith Sinzig. „Viele Mädchen probieren Diäten aus. Aber Essgestörte haben eine Empfindlichkeit gegen Gewichtsreduktion.“ Die Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik Bonn hat 20 Jahre Erfahrung in der Behandlung von Essstörungen bei Jugendlichen. „Wir sprechen oft automatisch von Mädchen, aber das gilt natürlich für beide Geschlechter.“ Allerdings erkranken Mädchen zehnmal häufiger.

„Die Zahlen sind stabil“, stellt Judith Sinzig klar. Eine Erhebung des Statistischen Landesamtes bestätigt: Die Zahl der stationär behandelten Essstörungen in Nordrhein-Westfalen lag 2006 bis 2016 jeweils zwischen 2000 und 2500 Fällen pro Jahr. Etwa die Hälfte der Betroffenen sind zwischen zehn und 21 Jahre alt. Dass sich die Fälle von Essstörungen bei Jugendlichen entgegen gefühlter Wahrheiten nicht häufen, stellt keinen Grund zur Entwarnung dar. Der Anteil von erkrankten Mädchen und Jungen liegt bei einem Prozent, bei Hochrisikogruppen kann jeder Vierte erkranken. Dazu gehören zum Beispiel Leistungssportlerinnen und Balletttänzerinnen. Damit sind Essstörungen die dritthäufigste chronische Erkrankung bei Jugendlichen.

Eine Ambulante Therapie wirkte bei Livia nicht. „Wenn ich gesehen habe, dass ich zunehme, habe ich es nicht mehr geschafft.“ Nach einem halben Jahr aß Livia meist nur noch ein Brötchen oder einen Joghurt am Tag. Als sie vor die Wahl einer stationären Behandlung gestellt wurde, bat sie ihre Eltern, ihr die Entscheidung abzunehmen. „Ich konnte das nicht selbst entscheiden.“

Sinzig sagt: „Bei Livia war das Glück, dass sie früh in stationäre Behandlung kam.“ Die Heilungsaussichten sind günstig, wenn rechtzeitig mit einer Therapie begonnen wird und das Gewicht noch nicht zu niedrig ist. „Je weniger ich wiege“, sagt Sinzig in der Ich-Perspektive eines Patienten, „desto kranker bin ich. Und je kranker ich bin, desto mehr bin ich überzeugt, dass ich richtig handle.“ Ess-Brechsucht wird in der Regel ambulant behandelt, Magersucht häufig stationär. Doch die Behandlung lief bei Livia zunächst alles andere als günstig. Sie schaffte es nicht zu essen und nahm weiter ab. Nach drei Tagen war ihr Zustand so kritisch, dass sie eine Magensonde bekam. Später begann sie damit, die Sondennahrung zu trinken. Schließlich fasste sie einen Entschluss: „Ich will es nicht mehr.“ Und: „Ich möchte essen.“

Seit viereinhalb Monaten ist Livia auf der Station. Ihr Zustand hat sich sehr gebessert. Vor den Sommerferien konnte sie die Schule auf dem Klinikgelände besuchen, mittlerweile darf sie am Wochenende nach Hause. „Die Heilungschancen sind sehr gut“, sagt Sinzig. Für Magersucht liegen sie bei einer angemessenen Behandlung bei ungefähr 70 Prozent. „Wichtig ist dabei, dass die Krankheit zu Ende behandelt wird“, ergänzt die Chefärztin. Der Heilungsprozess ist langwierig, sie empfiehlt nach der Entlassung aus der Klinik dringend eine ambulante psychotherapeutische Behandlung.

Autor Johannes Wolf ist einer von neun Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung, die in einem Seminar in Kooperation mit dem General-Anzeiger aktuellen Themen nachgegangen sind. Ihre Texte erscheinen in loser Folge im GA.

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