Serie KinderKinder „Kulturen bedeuten Reichtum“

BONN/ALFTER · Das Rezept für Integration in die deutsche Gesellschaft lautete in den Schulen der 70er und 80er Jahre noch: Die Kinder mit Migrationshintergrund bekommen in Vorbereitungsklassen Deutschunterricht, dann werden sie in die Regelklassen aufgenommen und haben sich anzupassen.

 Professor Albert Schmelzer (rechts) im Gespräch mit GA-Redakteur Philipp Königs.

Professor Albert Schmelzer (rechts) im Gespräch mit GA-Redakteur Philipp Königs.

Foto: Barbara Frommann

Dazu ein wenig Muttersprache, um vorbereitet zu sein für die Rückkehr in die Heimat.

Ein großer Erfolg war das aus heutiger Sicht nicht gerade, und so entwickelte sich in dieser Zeit die interkulturelle Pädagogik als Gegengewicht. Ein Zweig, der zur Maxime erklärt, dass die Beschäftigung mit anderen Kulturen eine Bereicherung darstellt und nur in einem gleichwertigen Dialog möglich ist. Eine einfache These, deren Umsetzung nicht immer ohne weiteres klappt. Professor Albert Schmelzer von der Alanus Hochschule Alfter hält sie dennoch für den richtigen Ansatz.

In seiner Forschung bewegt ihn das Fremdsein, und wie man ihm begegnen kann. Und zwar nicht bloß das Gefühl aus Sicht von Migranten oder Flüchtlingen, von denen jetzt so viele nach Deutschland gekommen sind, sondern auch aus dem Blickwinkel von Einheimischen. „Wir brauchen Toleranz gegenüber jeder Art von Unterschieden und sollten gegenseitige Achtung pflegen“, meint er.

In Mannheim betreut Albert Schmelzer seit einigen Jahren eine von ihm mit ins Leben gerufene Schule bis zur zwölften Klasse in einem sozialen Brennpunkt. Der Ansatz orientiert sich an der Waldorf-Pädagogik: garantierte Versetzung, Noten erst in den oberen Klassen, viele Lehrer mit Migrationshintergrund, nicht bloß klassische Fächer, sondern Schwerpunkte in der Musik, im Handwerklichen und Gestalterischen.

Deutsche lernen in den unteren Klassen im Fach „Begegnungssprache“ auch ein wenig Spanisch, Türkisch oder Serbokroatisch, nehmen also den umgekehrten Blick ein. „Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht.“ Deshalb ist der Pädagoge ein Freund des gemeinsamen Lernens in Ganztagsschulen und Gesamtschulen.

Risikogruppe im deutschen Bildungssystem

Schmelzer spricht von einer „Risikogruppe“ im deutschen Bildungssystem, sie besteht aus Kindern mit Migrationshintergrund aus schwachen sozialen Schichten. Dazu nennt er Zahlen. Zwölf Prozent von ihnen schaffen keinen Schulabschluss, bei den Deutschen sind es fünf Prozent. Umgekehrt betrachtet: 44 Prozent der deutschen Schüler schließen mit dem Abitur ab, nur 16 Prozent bei den Migranten.

Was haben diese Studienergebnisse mit der Herkunft zu tun, mit dem Gefühl des Fremdseins in einer anderen Kultur? „An den meisten Schulen spielen kognitive Fähigkeiten eine zu große Rolle. Es wird zu früh selektiert“, findet der Pädagoge. Die Gewissheit, Begabungen zu haben, erfahre einen Dämpfer, wenn normal begabte Kinder mit Migrationshintergrund Probleme mit der zweiten Sprache bekommen – sei es im Mündlichen oder im Schriftlichen.

Zu wenig Lehrer mit Migrationshintergrund

Außerdem liege die Zahl der Lehrer mit Migrationshintergrund je nach Schule bei ein bis sechs Prozent, wohingegen jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund habe. Das sei viel zu niedrig. Die Eltern müssten eingebunden werden. Manchmal klappe das weniger gut über die klassischen Besprechungsabende als über Feste oder gemeinsame Renovierungsarbeiten.

Und dann wäre da der Glaube. „Ein Franzose wird längst nicht mehr als fremd wahrgenommen, ein Muslim schon“, sagt Schmelzer. Er plädiert für Religionskunde auch außerhalb des Fachunterrichts, um das Gemeinsame der Religionen allen Schülern verständlich zu machen. „Kulturen sind keine Monolithen, sondern bewegliche Gebilde“, sagt er. Das gelte für Sprache, Religion und Gesellschaft.

Für das Zusammenleben hält der Professor den Verfassungspatriotismus, wie ihn der Soziologe Jürgen Habermas vertritt, für eine gute Klammer. Dahinter verbirgt sich die Grundhaltung, dass die Verfassung und die demokratischen Spielregeln einzuhalten sind. Das ist für religiöse Fundamentalisten nicht selbstverständlich. „Daran“, sagt Schmelzer, „ist zu arbeiten.“

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