Das Phänomen Synästhesie Junger Bonner sieht Töne und hört Farben

Bonn · Der 19-jährige Linus Plagens ist Synästhetiker. Er hört Farben und sieht Töne. Jetzt hat er ein Buch über seine besondere Wahrnehmung geschrieben.

Was hat Linus Plagens mit Wassily Kandinsky, Franz Liszt oder Lady Gaga gemeinsam? Sie alle sind Synästhetiker. Für sie überlagern sich verschiedene Sinneseindrücke. Wird ein Sinnesorgan gereizt, reagiert ein anderes ebenfalls auf diesen Reiz. Für Plagens sind Buchstaben daher nicht einfach nur gedruckte Zeichen. Der Student verknüpft mit jedem einzelnen eine bestimmte Farbe und Anordnung. A ist beispielsweise gelb, O ist rot. Aber nicht nur Buchstaben, auch Zahlen und Symbole, sogar Musik und Personen erscheinen für ihn in einer spezifischen Farbnuance. Den Grund für diese Wahrnehmungsform vermuten Forscher in einer besonderen Vernetzung des Gehirns.

Laut der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft sind etwa vier Prozent der Menschen Synästhetiker – jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. „Es gibt nicht viele, die offen darüber reden können“, sagt Molly Holst von der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft. Medizinisch messbar wird eine Synästhesie mittels einer Magnetresonanztomografie, bei der sich zeigt, dass mehrere Gehirnareale gleichzeitig aktiv sind. Wie sich das in der Wahrnehmung niederschlägt, ist aber individuell verschieden. „Es gibt unzählige Formen von Synästhesie“, weiß Holst. Schätzungsweise existieren rund 80 Kombinationsmöglichkeiten.

Zum ersten Mal „bemerkt“ hat Linus Plagens seine besondere Wahrnehmung im Alter von vier Jahren bei einer Reise nach Russland, der Heimat seiner Mutter. Auf der Fahrt sagte er das Alphabet auf und ordnete jedem Buchstaben eine Farbe zu. Seine Mutter störte sich damals nicht weiter daran – auch sie ist Synästhetikern, wusste es zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht. Erst als Plagens mit seiner älteren Schwester Jahre später eine Werbung ansah und sich beschwerte, dass das O im Werbeslogan nicht rot gekennzeichnet sei, fiel ihm auf, dass nicht jeder Farben und Buchstaben miteinander in Verbindung setzt. Daraufhin begann er im Internet zu recherchieren und fand schließlich Parallelen. „Ich war froh, dass ich endlich einen Begriff hatte“, sagt er rückblickend.

Seit dem Wintersemester studiert der gebürtige Schweriner an der Bonner Universität Physik, will sich auf die Astrophysik spezialisieren. Die Forschung an seiner Wahrnehmung betreibt der 19-Jährige nebenbei als Hobby. „Es ist zu meiner Lebensaufgabe geworden, meine Synästhesie zu erforschen.“ Seine bisherigen Erkenntnisse und sein Alltag mit der Synästhesie hat er in einem Buch zusammengefasst. Titel: „Mein blaues Geheimnis“. Auf Zeichnungen präsentiert er darin, wie sich das Alphabet für ihn darstellt: In einer abfallenden Wellenbewegung ordnen sich die bunten Buchstaben auf dem Papier an. Eine andere Zeichnung zeigt eine Farbpalette mit unterschiedlichen Gefühlen: Neid ist ein sattes Grün, Angst ein helles Gelb.

Die Synästhesie bringt für ihn Vorteile, erschwert manche alltäglichen Dinge allerdings. Eine neue Sprache lernt Plagens innerhalb weniger Tage. Dafür geriet er im Deutschunterricht ins Stocken, als er Haupt- und Nebensätze in bestimmten Farben unterstreichen sollte, weil die Farbgebung gegen sein System verstieß. Auch beim Rechnen hilft ihm seine Wahrnehmung „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ohne Farben wäre. Wenn alle Zahlen schwarz wären, wären sie ja gleich und ich könnte gar nicht damit rechnen. Selbst Personen erscheinen für ihn in einer bestimmten Farbe, die über Geschlecht, Haarfarbe, Größe, Kleidung schließlich den Charakter definiert. „Bei Musik kann ich eine Farbe ausblenden, bei Buchstaben und Zahlen gehören sie fest dazu“, sagt Plagens. Und wie sieht er Bonn? „Ganz klar Rot. B ist zwar rosa, aber das o steht für Rot.“

Das Buch „Mein blauesGeheimnis“ gibt es für 12,90 Euro auf www.edition-buchshop.de.

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