Interview über Störungen bei Jungen In der Krise

Bonn · Leistungsabfall, Verhaltensauffälligkeiten: Psychologe Bernd Kinder spricht über Störungen bei Jungen. Wie können Familien, Kindergärten und Schulen „jungengerechter“ erziehen? Die Caritas bietet dazu für Eltern und Fachkräfte einen Informationstag an.

 Bernd Kinder arbeitet seit 23 Jahren als psychologischer Psychotherapeut für die Caritas Bonn.

Bernd Kinder arbeitet seit 23 Jahren als psychologischer Psychotherapeut für die Caritas Bonn.

Foto: Matthias Kehrein

Jungen in der Krise: Wie meinen Sie das als Psychologe?

Bernd Kinder: Man hat festgestellt, dass die schulischen Leistungen bei Jungen im Vergleich zu Mädchen seit Jahrzehnten sinken und die Verhaltensauffälligkeiten zunehmen. Und dieses Störverhalten zeigt, dass es noch zu wenige Modelle für Kindergärten und Schulen gibt, was eigentlich gute Männlichkeit bedeutet.

Und was ist gute Männlichkeit für Jungen?

Kinder: Die ist nicht so einfach zu benennen. Meist ist es so, dass Jungen selbst, je älter sie werden, Männlichkeit nur als möglichst nicht weiblich definieren. In der Forschung werden als gute Männlichkeitskennzeichen etwa genannt: Zuverlässigkeit, Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen. Jungen haben auch ein sehr positives Freundschaftsbild: Auch bei Krisen „zicken“ sie also nicht lange 'rum (lacht). Trotz heftigen Streits vertragen sich Jungs schnell wieder.

Brauchen Jungen also im erzieherischen Alltag anderes als Mädchen?

Kinder: Ja, sicherlich. Man hat ja festgestellt, dass sie in der Entwicklung im Vergleich oft zwei Jahre zurück sind. Gerade in der Pubertät ist ihre Konzentrationsfähigkeit nicht gut. Im Grunde genommen brauchen Jungs mehr Bewegung. In einigen Schulen werden sie also zwischendurch mal ein paar Minuten in den Schulhof gescheucht (lacht).

Werden denn Auffälligkeiten immer richtig gedeutet?

Kinder: Nun ja, leider neigen wir ja dazu, Unkonzentriertheit mit Strafen zu bedenken. Wenn die Auffälligkeit aber chronisch ist, sollte sie als Hinweis auf eine Krise oder ein psychisches Problem wahrgenommen werden.

Da wären wir bei Ihrer Erziehungsberatungsstelle. Wem können Sie denn helfen?

Kinder: Im Fall sozial auffälliger Jungen versuchen wir natürlich, den Hintergrund der Krise herauszubekommen. Meist haben sie mit ihrem Selbstwertgefühl Probleme, weil sie häufig auf keine guten männlichen Vorbilder zurückgreifen können. So definieren sie sich dann in ihrer Peer-Gruppe Gleichaltriger genau über Stören und Clownereien.

Durchschauen die Jungen das denn?

Kinder: Ja, sie sagen selbst, sie hätten Angst, aus der Gruppe rauszufliegen, wenn sie diese Rolle nicht erfüllen.

Wie kann eine „jungengerechtere Schule“ darauf eingehen?

Kinder: Ab und an getrennt geschlechtlichen Unterricht anzubieten oder spezielle Jungengruppen einzuführen, das halte ich für sehr sinnvoll. Und davon profitieren dann auch die Mädchen, zum Beispiel von einer Trennung in Mathematik. Bei Deutsch wäre es genau umgekehrt, hier würde eine Trennung den Jungen zu Gute kommen.

Müsste man eigentlich nicht auch schon im Kindergarten aufmerksam sein?

Kinder: Bestimmt. Die Geschlechterrollen sollten auch da in Projekten hinterfragt werden. Denn gerade kleinere Kinder sind noch sehr offen. Ihnen macht es Spaß, auch mal probeweise in andere Rollen zu schlüpfen und daraus zu lernen.

Derzeit kommen viele Kinder aus Ländern mit patriarchalischer Struktur zu uns. Beraten Sie in Krisenfällen auch solche Familien?

Kinder: Natürlich. Wir sind eine katholische Einrichtung, die offen ist für alle, also auch für muslimische Familien. Wir treffen auf Jungen, deren Schwestern schulischen Erfolg haben, sie selbst aber scheitern und das damit zu kompensieren versuchen, dass sie sogenannte klassische Männlichkeitsrollen einnehmen und dann ein risikoreiches Verhalten an den Tag legen.

Wie zeigt sich das?

Kinder: Dass solche Jungen sich etwa mit Lehrerinnen anlegen und deren Autorität nicht akzeptieren. Es ist besonders schwierig, die Männlichkeitsmodelle in den Köpfen der Jugendlichen zu hinterfragen. Ich will aber keine Klischees bedienen. Rein patriarchalisches Handeln gibt es durchaus auch in deutschen Familien. Zweifelsohne müssen wir uns in der Gesellschaft diesen Problemen stellen.

Kostenloser Info- und Diskussionstag „Jungen in der Krise?!“ morgen, Samstag von 10 bis 15 Uhr, Caritas-Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, Hans-Iwand-Straße 7, 53113 Bonn. Anmeldung per E-Mail an bernd.kinder@caritas-bonn.de

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