Ambulanz in Bonn Giftnotruf wird so oft gewählt nie zuvor

Bonn · Der Bonner Giftnotruf ist für ganz Nordrhein-Westfalen zuständig und wird öfter gewählt als jemals zuvor. 44 000 Fälle wurden im vergangenen Jahr am Zentrum für Kinderheilkunde der Uniklinik bearbeitet.

Ein Bild mit saftigen Südfrüchten auf dem Etikett der Flasche, darin eine klare gelbe Flüssigkeit wie Wackelpudding und ein intensiver Zitrusduft. Für Marie war das Spülmittel auf der Anrichte offenbar unwiderstehlich. Nach einem kräftigen Schluck ist der Zweijährigen speiübel und ihr kommen Blasen aus dem Mund. „Für uns ist das ein ganz typischer Fall“, sagt Carola Seidel im Zentrum für Kinderheilkunde der Bonner Uniklinik an der Adenauerallee. Die Oberärztin leitet dort den Giftnotruf für Nordrhein-Westfalen.

In Maries Fall kann sie schnell relative Entwarnung geben. Zwar besteht die geringe Gefahr, dass Schaumblasen in die Lunge des Mädchens gelangen. Mit einem Teelöffel Abführmittel sollte die Sache aber eigentlich gegessen sein. Neun von zehn Fällen seien ähnlich harmlos – und der Weg in die Klinik damit überflüssig, sagt Seidel, die das Informationsangebot seit 18 Jahren leitet. Das Land, das den Giftnotruf 1967 einrichtete, spart damit erhebliche Kosten im Gesundheitswesen und schafft Kapazitäten für die wirklich heiklen Fälle.

Insgesamt beobachten die Bonner Mediziner eine erfreuliche Abnahme schwerer Vergiftungen: Vor Kinderhänden sichere Verschlüsse und besser aufgeklärte, umsichtige Eltern machen es möglich. Dennoch wird der Bonner Giftnotruf, der für ganz Nordrhein-Westfalen zuständig ist, insgesamt öfter gewählt als jemals zuvor. 44 000 Fälle wurden im vergangenen Jahr am Zentrum für Kinderheilkunde bearbeitet.

Dabei haben die rund um die Uhr unter der Nummer 1 92 40 erreichbaren Mediziner tatsächlich eine Herkulesaufgabe geschultert. In der eigenen Datenbank sind 1300 Substanzen gespeichert. „Außerdem können wir auf eine Produktdatenbank mit 300 000 Artikeln vom Farbstoff bis zur Schmerztablette zurückgreifen und auf eine weitere US-amerikanische mit mehreren Hunderttausend weiteren Produkten.“ Wenn Anrufer den Produktnamen nennen, wissen die Experten, womit sie es zu tun haben. Trotzdem bittet Seidel Anrufer um ein wenig Geduld, gilt es doch aus der Vielzahl der möglichen Vergiftungsursachen zunächst die exakte herauszusuchen.

Neben besorgten Laien konsultieren vor allem Klinikärzte die Bonner Experten. „Stellen Sie sich das komplette Sortiment eines Drogeriemarktes vor, dazu alle Flüssigkeiten und Pasten im Baumarkt – und dazu noch eine voll sortierte Apotheke. Das kann kein Arzt alles im Kopf haben“, sagt Seidel. Die meisten Fälle betreffen Kinder im Alter von neun Monaten bis zu drei Jahren, die instinktiv alles in den Mund nehmen, was vor ihren Händen nicht sicher ist.

Besonders gefährlich sind ätzende Stoffe wie Rohr- oder Backofenreiniger. „Die sorgen für stark schmerzhafte Verätzungen, vergleichbar mit schweren Verbrennungen. Die Speiseröhre oder die Magenwand können durchbrechen und die verätzten Stellen Krebsherde bilden“, warnt Seidel. Vor allem könne man wenig dagegen tun. „Das Kind ist dann in den Brunnen gefallen – und ein jahrelanger Leidensweg beginnt.“ Tückisch seien auch Knopfbatterien, die nicht nur die Speiseröhre gefährden, sondern im Körper auch Strom fließen lassen. Sie müssen mit einem Magenschlauch entfernt werden.

Es komme aber auch schon mal vor, dass Mütter die Vitamin-D-Kapsel fürs Kind mit der eigenen Schilddrüsentablette verwechseln. Oder im Krankenhaus oder Altenheim werden Medikamente vertauscht. Neben diesen menschlichen Versehen sind Suizidversuche der zweithäufigste Grund, weshalb Seidel und ihre Kollegen tätig werden müssen. Die könnten bei Kindern mit entsprechenden Angststörungen oder Psychosen schon ab dem Alter von zehn oder elf Jahren auftreten.

Um zu wissen, was in allen diesen Fällen am besten zu tun ist, pflegen die Bonner Gift-Experten ein umfassendes digitales Fall-Archiv. „Versuche an Menschen verbieten sich. Also können wir nur aus der Erfahrung mit realen Giftnotfällen lernen“, sagt die Leiterin. Alle behandelnden Klinikärzte bekommen deshalb einen Fragebogen zum Behandlungsverlauf zugeschickt, und Laien werden nach Möglichkeit noch einmal per Telefon kontaktiert. Carola Seidel appelliert vor allem an ihre Arzt-Kollegen: „Wir sind intensiv auf die Mithilfe der Betroffenen angewiesen, um die Welt in Zukunft wieder ein Stück sicherer zu machen.“

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