GA-Serie: Sicher leben "Die Suchttendenzen in unserer Gesellschaft steigen"

Bonn · Drogen sind längst kein Randgruppenthema mehr. Wohlfahrtsverbände bieten Präventionsprogramme, Fachkliniken behandeln Abhängige. Bei Kindern und Jugendlichen ist die besten Vorbeugung, sie stark zu machen.

 Dieses Symbolbild der Polizei zeigt Jugendliche im öffentlichen Raum beim Dealen mit Drogen.

Dieses Symbolbild der Polizei zeigt Jugendliche im öffentlichen Raum beim Dealen mit Drogen.

Foto: Polizei-Beratung

Markus Banger ist Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen und Psychotherapie an der LVR-Klinik in Bonn. Fabian Vögtle sprach mit ihm über die Entwicklungen in der Drogenszene, die Gesellschaft im Rausch und Präventionsmaßnahmen.

Einige Ihrer Kollegen sehen in Crystal Meth - der starken Psychostimulanz auf Amphetamin-Basis - die neue Leitdroge der Nation. Teilen Sie die Einschätzung?
Markus Banger: Crystal Meth ist ein ganz spannendes Thema, über das auch unter Medizinern derzeit viel diskutiert wird. Die meisten Konsumenten kommen momentan noch aus Bayern, Thüringen und Sachsen wegen der Nähe zu Tschechien, wo der Stoff herkommt. Aber auch wir kommen damit bald in Berührung. Das ist ja gar keine neue, sondern eine ganz alte Substanz.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die besonderen Gefahren dieser Droge?
Banger: Man fühlt sich nach dem Konsum nicht erschöpft und scheint zu allem bereit, in gewisser Weise wie ein Supermann oder eine Superfrau. Bei Crystal Meth sind zudem auffällig viele Frauen betroffen. Bei anderen Drogen gehen wir bei den Abhängigen von zwei Dritteln Männer und einem Drittel Frauen aus. Bei den Crystal-Konsumenten sind die Hälfte Frauen. Dadurch sind auch neue Themen wie zum Beispiel die Schwangerschaft und die Entwicklung der Kinder von Suchtkranken hochaktuell. Von Crystal Meth wird man zudem schneller abhängig als von anderen Drogen, das Verlangen ist noch größer. Viele werden richtig aggressiv. Die Horrorbilder, die derzeit gezeigt werden, sind meiner Meinung nach aber übertrieben.

Welche Entwicklungen sind derzeit sonst zu erkennen?
Banger: Da verändert sich gerade einiges. Neben den vielen verschiedenen Cannabis-Präparaten und Amphetaminen sind vor allem die Legal Highs angesagt. Deren Konsumenten kommen zwar noch nicht zu uns in die Klinik, aber innerhalb der nächsten zehn Jahre werden wir voraussichtlich viele in Behandlung haben. Dabei gibt es viele neue psychoaktive Substanzen, die von findigen Chemikern immer wieder ein bisschen verändert werden und neue Risiken generieren. Die werden dann über Headshops (Läden mit Zubehör für Drogenkonsum) und übers Dark-net (Internetkauf) mit Namen wie Badesalz vertrieben. Hinzu kommen die sogenannten Partydrogen, da muss man fast Chemiker sein, um das zu verstehen. Außerdem erkennen wir eine immer stärkere Segmentierung der Szene. Das ist nicht mehr nur die Drogenszene am Bahnhof. Wir haben die Partyszene, wo junge Menschen Pillen nehmen, um sich richtig auszutoben. Dann gibt es Gruppen in der Gay Community, wo Substanzen genommen werden für ein intensives Sexualerleben. Hinzu kommt die Gruppe von Leuten in der Ausbildung, also Schüler und Studenten sowie leistungsstarke Menschen, die mit dem Drogenkonsum noch leistungsstärker werden wollen. Aber das ist, anders als oft dargestellt, eher eine Minderheit, vielleicht fünf Prozent. Die wichtige Gruppe der traumatisierten Menschen dürfen wir auch nicht vergessen.

Was sagen diese Trends über unsere Gesellschaft aus?
Banger: Unsere Gesellschaft wird immer suchtfreundlicher. Das wird immer mehr. Die Leute wollen schöner sein als sie sind, also lassen sie sich operieren. Sie wollen klüger sein als sie sind, also nehmen sie Pillen. Der Wettbewerbsgedanke steckt schon im Menschen drin, auch der olympische Gedanke. Aber aufs Treppchen zu kommen, ohne dafür einen wirklichen Einsatz zu zeigen, sondern sich lieber mithilfe einer Pille zu verbessern, das ist neu - zumindest im Alltag.

Es gibt viele Menschen, die mit einigen Drogen andere Süchte überwinden oder sogar Störungen mildern. Ist das nicht ein gefährlicher Kreislauf?
Banger: Es gibt Patienten, die mischen sich ihren Cocktail, die experimentieren selbst herum: hier ein bisschen Jägermeister, hier ein bisschen Cannabis. Was daraus wird, weiß man nicht. Es gibt auch so etwas wie Suchtverlagerung. Sie können eine Alkoholabhängigkeit gut mit Heroin behandeln, aber das ist natürlich nicht sinnvoll. Denn dann haben sie letztendlich zwei Süchte.

Wie stehen Sie zur immer wieder debattierten Legalisierung von Cannabis?
Banger: Aus medizinischer Sicht gibt es Gründe Cannabis-Präparate zu verschreiben. Das gilt etwa bei chronisch Schmerzkranken oder Menschen mit Multipler Sklerose. Die israelischen Soldaten bekamen in einer Studie auch Cannabis, denn durch deren Wirkung vergessen sie die im Krieg erlebten Gräuel. Das heißt, man muss danach gar nicht alles aufarbeiten. Man kann darüber nachdenken, ob das nicht auch eine Möglichkeit ist für Leute direkt nach einem Trauma. Aber das ist medizinisch noch nicht überprüft worden. Zur Debatte um die Freigabe: Wenn die Verfügbarkeit der Droge erhöht wird, konsumieren auch mehr Menschen und so werden auch zwangsläufig mehr abhängig. Das heißt, man müsste gleichzeitig zu einer Freigabe das Suchthilfesystem ausbauen. Denn die Denkweise, wir könnten den kriminellen Pool austrocknen und schon gibt es weniger Dealer, ist naiv. Es gibt noch genug andere Substanzen, da weichen die einfach aus.

Wie können Eltern ihre Kinder sensibilisieren, damit diese mit bestimmten Drogen erst gar nicht in Berührung kommen?
Banger: Das schaffen sie nicht, denn die Kinder kommen heutzutage fast überall mit Drogen in Berührung. Ein gutes, vertrauensvolles, offenes Verhältnis, bei dem man miteinander reden kann - das muss das Ziel sein. Wir hatten zuletzt das Projekt "Junge Sucht" für Cannabisabhängige und arbeiten mit der Caritas, der Diakonie und dem Verein für Gefährdetenhilfe sowie der Klinik Im Wingert eng zusammen. Wir unterstützen uns in der Prävention wie in der Therapie gegenseitig. Zukünftig müssen wir dabei verstärkt in die einzelnen Gruppen reingehen und uns vor allem um die Kinder von Suchtkranken kümmern und die Präventionsangebote in Bonn und der Region koordinieren und bündeln.

Wie kann man die jungen Leute denn da abholen wo sie unterwegs sind, vielleicht auch über Schockbilder im Internet?
Banger: Man muss schon deutlich machen, was es gibt und wo die Gefahren lauern, aber die Abschreckung hilft dabei nicht. Die beste Prävention ist, die Kinder stark zu machen. Das sollte in der Schule passieren, in den Familien und mit Projekten, wie in Bonn etwa "Starke Pänz" (Pädagogische Gruppenarbeit für Kinder/Jugendliche aus sucht- und/oder psychisch belasteten Familien). Prävention vermindert Leid und spart auch Kosten. Es ist ja schwierig, so tolle Gefühle zu haben wie unter Drogen. Aber man kann sie schon haben. Wenn sie was Tolles erreicht haben, stolz drauf sind, und Lob und Anerkennung dafür bekommen, das ist auch ein schönes Gefühl. Dass in unserer Gesellschaft die Suchtendenzen kontinuierlich steigen, ist eine Riesengefahr.

Wenn Sie auf die letzten Jahre schauen. Was hat sich konkret verändert, was verlagert?
Banger: Alkohol ist immer noch weit vorne. Zahlenmäßig ruft sein Konsum viel mehr Leid hervor als alle anderen Drogen. Wenn die Drogenbeauftragte zum Thema Alkohol einlädt, kommen aber nur wenige. Bei Crystal Meth ist der Saal voll. Nach den Alkoholkranken kommen die Opiate- und Schmerzmittelabhängigen, dann die Amphetamine.

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