Interview mit Eckart Wuster „Die Gesellschaft braucht einen freien Tag“

Superintendent Eckart Wüster spricht im GA-Interview über das Reformationsjahr, Mitgliederschwund und verkaufsoffene Sonntage.

 Wüster im GA Interview

Wüster im GA Interview

Foto: Benjamin Westhoff

Herr Wüster, in Bonn gibt es drei evangelische Kirchenkreise, die teilweise über das Stadtgebiet hinausgehen. Wird es bei diesem Zuschnitt dauerhaft bleiben?

Eckart Wüster: Das weiß ich nicht. Über die Struktur wurde immer wieder einmal diskutiert. Sollte es hier zu Veränderungen kommen, ergäbe wohl am ehesten ein Kirchenkreis Sinn, dessen Zuschnitt deckungsgleich zum Bonner Stadtgebiet ist. Ein Problem der Überlegungen besteht darin, was bei einem Neuzuschnitt mit dem Gebiet Voreifel geschieht, das heute dem Kirchenkreis Bad Godesberg-Voreifel zugeordnet ist. Denn für einen eigenen Kirchenkreis erscheint dieses Gebiet zu klein. Bislang ist uns dafür keine gute Lösung eingefallen. Ein anderes Problem besteht darin, dass wir durch einen größeren Kirchenkreis nicht unbedingt nur Vorteile bekommen.

Inwiefern?

Wüster: Es wäre zum Beispiel nicht leicht vermittelbar, wenn sich Gläubige in Bad Münstereifel oder Zülpich nach Bonn orientieren müssen – und folglich zum Beispiel auch den Bonner Kirchenpavillon mitfinanzieren müssten.

Ist diese Diskussion aktuell oder liegt die Frage nach einer Neugliederung erst einmal bei den Akten?

Wüster: Für die praktische Arbeit haben wir eine Regelung getroffen. Alle Anliegen aus der Stadt Bonn, die zunächst bei uns landen, aber dezentral zu regeln sind, werden von uns an die beiden Kollegen der anderen Kirchenkreise weitergegeben. Insgesamt ist die Zusammenarbeit der drei Bonner Kirchenkreise ausgesprochen gut. Es gibt eine Reihe von Arbeitsfeldern, die die drei Kirchenkreise gemeinsam unterhalten - vom Schulreferat über die Kindergartenfachberatung, Diakonie, Kinder- und Jugendhilfe und mehr. Was man nicht vergessen darf: Nicht nur die Kirchenkreise, auch die Gemeindegrenzen weichen teilweise von den Stadtgrenzen ab, weil sie älter sind als die kommunale Neuordnung. So gehören beispielsweise Hersel und Buschdorf zu einer Gemeinde; ebenso wie Oberkassel und Dollendorf.

Die Katholische Kirche in Bonn hat bereits einige Strukturveränderungen hinter sich, die vor Ort viel diskutiert und nicht nur begrüßt wurden. Ein höchst umstrittenes Thema waren dabei Gemeindefusionen. Steht den Protestanten derlei in nächster Zeit ebenfalls bevor?

Wüster: Ob das in Bonn stattfinden wird, bleibt abzuwarten. Zuletzt haben wir ja gerade eine Aufteilung einer Gemeinde erlebt, als sich die große Johanniskirchengemeinde teilte. Die Frage, ob Gemeinden fusionieren oder ob sie sich auf gemeindeübergreifende Kooperationen verständigen, müssen die Diskussionen zeigen. Ich halte nichts davon zu sagen: Fusionen um jeden Preis sind gut, und je größer die Einheit, desto effektiver. Meine Erfahrung ist inzwischen eine andere. Wir stellen gerade im Kirchenkreis Bonn fest, dass die kleine Einheit mit ihren kurzen Wegen enorme Vorteile hat. Voraussetzung ist natürlich immer, dass die anstehende Arbeit von dem kleinen Kirchenkreis auch geleistet werden kann. Das ist in Bonn derzeit eindeutig der Fall.

Gibt es derzeit Pläne, evangelische Kirchen in Bonn aufzugeben und umzuwidmen? Oder zu verkaufen, wie kürzlich die Godesberger Marienforster Kirche?

Wüster: Derzeit sind mir solche Überlegungen nicht bekannt.

Unter welchen Umständen wäre es für Sie vorstellbar?

Wüster: Die Frage ist: Wie viel Geld müssen wir im Jahr für den Unterhalt eines bestimmten Gebäudes aufbringen? Ließe sich davon auch eine volle Stelle für die Kinder- und Jugendarbeit finanzieren? Allerdings brauchen wir für die Arbeit, die wir leisten, natürlich auch Gebäude. Wenn man eine Kirche aufgibt, ist das stets hochemotional.

An wen soll man ein Kirchengebäude verkaufen dürfen? Darf eine Kirche zum Supermarkt werden?

Wüster: Das muss von Fall zu Fall von jeder einzelnen Gemeinde entschieden werden. Die Vergangenheit hat gezeigt, welch höchst unterschiedliche Ergebnisse dabei möglich sind. Dass in Bonn eine Kirche zum Supermarkt wird, sehe ich nicht!

Zuletzt wurde in Bonn wieder intensiv über das Thema verkaufsoffene Sonntage gestritten. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Wüster: Dass ich kein Freund verkaufsoffener Sonntage bin, wird Sie sicher nicht wundern. Aber ich argumentiere nicht mit den Gottesdiensten am Sonntagmorgen. Ich glaube nicht, dass sich jemand vom Kirchgang am Vormittag abhalten lässt, weil um 13 Uhr Geschäfte öffnen. Was ich aber für vermittelbar halte: Dass die Gesellschaft mindestens einmal pro Woche einen Tag braucht, an dem möglichst viele frei haben. Für die Familie, die Freizeit, zum Faulenzen – und natürlich auch für den Gottesdienst. Wollen wir wirklich, dass unser gesamtes Leben noch mehr ökonomisiert wird als das derzeit ohnehin schon der Fall ist? Ich würde das als Verlust empfinden.

Ein Dauerthema in der Evangelischen Kirche ist der Mitgliederschwund. Wie ist die Situation in Bonn?

Wüster: Relativ moderat. Auch bei uns gibt es Rückgänge, der Grund ist jedoch vor allem der demografische Faktor. Selbst dieses Merkmal tritt in Bonn abgeschwächt zutage, weil wir hier viele junge Familien haben. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: In meiner eigenen Gemeinde in Hersel hatten wir in den vergangenen drei Monaten drei Beerdigungen und 19 Taufen. Dies ist die Tendenz in allen Gemeinden. Unter dem Strich bleibt damit die Mitgliederzahl nahezu konstant.

Sie haben zuletzt wiederholt vor Pfarrer- und Fachkräftemangel gewarnt. Können Sie Ihre Sorge konkretisieren?

Wüster: In der Evangelischen Kirche im Rheinland wirken derzeit rund 1800 Pfarrer und Pfarrerinnen. Durch den starken Pensionierungsschub, der in den 2020er Jahren auf uns zukommt, würden ohne Gegenmaßnahmen im Jahr 2030 nur noch 600 Pfarrerinnen und Pfarrer bei uns arbeiten können. So stark wird aber der Mitgliederbestand nicht abnehmen. Aus diesem Grund hat die Landessynode mehrere Beschlüsse dazu gefasst: für das Theologiestudium zu werben, Quereinsteigern den Weg zu pastoralen Aufgaben zu ermöglichen. Im Moment sind wir guter Dinge, dass wir im Jahr 2030 eintausend Vollzeitpfarrstellen vorhalten können. Wie sicher das ist, kann natürlich derzeit niemand sagen.

Und der Fachkräftemangel?

Wüster: Den gibt es in der Tat auch in den Kindertagesstätten, was ein großes Problem ist, das alle Träger gleichermaßen trifft. Entsprechend fragt man sich, wie die von der Landesregierung angekündigte Ausdehnung des Angebots personell gedeckt werden soll. Hier bleibt abzuwarten, ob womöglich Vorschriften zur Qualifikation aufgeweicht werden. Wir müssen uns außerdem intensiv bemühen, im Bereich der Kirchenmusik für mehr Nachwuchs zu sorgen – vor allem bei den nebenamtlichen Organisten. Viele junge Leute wollen sich nur ungern an die festen zeitlichen Strukturen binden lassen. Noch allerdings sind wir in Bonn fantastisch ausgestattet.

Die evangelischen Gemeinden im Bonner Stadtgebiet haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe Kindergärten abgegeben. Zieht sich Kirche da nicht aus der Basisarbeit zurück?

Wüster: Zunächst einmal sind viele davon an die KJF (gemeinnützige evangelische Gesellschaft für Kind, Jugend und Familie, Anm. d.Red.) abgegeben worden, also an eine diakonische, und somit kirchliche Organisation. Aber ich bedauere außerordentlich, dass vor allem die hohe Arbeitsbelastung der Ehrenamtlichen in den Presbyterien – auch hervorgerufen durch das Kinderbildungsgesetz - vielerorts zu dieser Entscheidung der Träger geführt hat. Es gibt aber auch andere Bespiele: Die Lutherkirchengemeinde hat in Kessenich gerade erst für eine weitere KiTa die Trägerschaft übernommen.

Kernstück evangelischen Gemeindelebens ist der Gottesdienst. Geht die Zahl der Teilnehmer auch in Bonn zurück?

Wüster: Es ist gar keine Frage, dass wir uns für den Sonntagsgottesdienst höhere Besucherzahlen wünschen. Man stellt aber fest: An bestimmten Tagen sind die Kirchen voll, etwa im Familiengottesdienst zum Erntedankfest. Laut Zahlen der EKD besuchen pro Wochenende etwa eineinhalb Millionen Menschen einen christlichen Gottesdienst in Deutschland. Letztlich aber ist es auch immer die Frage, wie man den Gottesdienst gestaltet. Unmöglich ist es allerdings, dabei jedem Bedürfnis gerecht zu werden. Der eine wünscht die tiefgehende Predigt oder die alten, traditionellen Lieder, der andere mag es moderner. Hier kann es helfen, unterschiedliche Formate anzubieten.

Wie beurteilen Sie den Stand der Ökumene in Bonn?

Wüster: Lebendig und stark. Stadtdechant Schumacher und ich treffen uns einmal im Monat und stimmen uns bei ganz vielen Themen ab und vertreten uns sogar gegenseitig. Vor Ort gibt es viele ökumenische Aktivitäten – von gemeinsamen Pfarr- und Gemeindefesten über gemeinsame Gottesdienste bis hin zu Partnerschaftsvereinbarungen.

Wir befinden uns im Gedenkjahr zur Reformation. Mit Blick auf Reformen hat der frühere EKD-Vorsitzende Wolfgang Huber das Konzept „Kirche der Freiheit“ entwickelt. Wie beurteilen Sie das Gedenkjahr vor dem Hintergrund der Reformfähigkeit? Sind die Chancen genutzt worden?

Wüster: Das kommt darauf an, wohin man blickt. Es gibt Bereiche, in denen Reformen längst stattfinden, weil man erkannt hat: Wir können nicht so bleiben, wie wir sind. Auf der anderen Seite müssen wir uns als Evangelische Kirche auch fragen: Wie viel von dem, was an Tradition auf uns gekommen ist, möchten wir erhalten und in welcher Weise? Ökumene dient hier übrigens als wunderbare Ergänzung. Die Katholische Kirche ist beim Bewahren von Tradition stärker als wir; wir sind stärker darin, Tradition zu verändern und neu zu gestalten. Das im Gleichgewicht zu halten, ist nicht immer einfach.

Eine allgegenwärtige Frage, die die Evangelische Kirche umkreist, lautet: Wie politisch soll und darf Kirche sein?

Wüster: Eine unpolitische Kirche kann und darf es nicht geben. In welcher Weise sie politisch wirkt, ist eine Frage der Definition. Wir sind ein nach wie vor starker Akteur in unserer Gesellschaft und treten auch ein für Menschen, von denen wir meinen, dass sie nicht viel Gehör finden – nehmen Sie das Beispiel Kinderarmut. In diesem Sinne sind wir natürlich Lobbyisten. Die Zeit, in der von Kanzeln Wahlempfehlungen abgegeben wurden, ist hingegen vorbei. Und natürlich hat sich ein Staat nicht an Religionen auszurichten.

Die Frage nach dem Umgang mit der AfD hat auch in der Evangelischen Kirche höchst unterschiedliche Haltungen sichtbar gemacht – von strikter Ausgrenzung bis zum Dialog. Wozu tendieren Sie?

Wüster: Ich bin kein Freund davon, Dialoge zu verweigern. Wir brauchen den politischen Diskurs. Und zwar auch deshalb, weil wir mit vielen Menschen zu tun haben, die Angst haben und verunsichert sind. Diese Sorgen müssen aufgegriffen werden, und das geschieht mir im Ganzen noch zu wenig. Dass bei uns Menschen Gefühle von Wut und Aggression entstehen, darauf haben wir keinen Einfluss. Die Frage aber ist, wie wir damit umgehen. Das müssen wir stärker thematisieren und diskutieren. Wir können mit unseren Aggressionen auch so umgehen, dass wir sie nicht an anderen auslassen.

Die Haltung, die AfD ausdrücklich nicht zum Gespräch auf dem Kirchentag zu laden, wurde auch von Vertretern der drei Kirchenkreise getragen. Dem schließen Sie sich also nicht an...

Wüster: Dem schließe ich mich nicht an. Ich bin dafür, sehr kritisch mit der Partei umzugehen. Ebenso richtig und wichtig finde ich es, dass man mit ihren Vertretern im Gespräch bleibt. Die Anhänger gehen quer durch die gesellschaftlichen Gruppierungen. Die Partei in eine Opferrolle zu drängen, den Gefallen möchte ich ihnen nicht tun .

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