Ambulante Pflege Caritas und Diakonie: "Wir stehen vor dem Abgrund"

BONN · Pflegedienste fordern eine auskömmliche Vergütung der Leistungen in der ambulanten Pflege.

Wenn Atila Alkaya frühmorgens seine ambulante Pflegetour startet, fährt das schlechte Gewissen mit. 17 meist einsame, schwer kranke oder demente Patienten müssen mit genau vorgeschriebenen Leistungen letztlich im Minutentakt versorgt werden. Wehe, der ängstliche alte Herr macht nicht sofort die Tür auf, oder die schwierige Dame wird sich erst nach viel Zuwendung waschen lassen. "Dann ist mein Zeitfenster schnell überschritten. Wie soll ich da noch menschenwürdig pflegen?", fragt Alkaya. Ihm ist die Not, ist der tagtägliche Stress anzusehen.

Der Druck auf die an sich motivierten Pflegekräfte werde ständig größer, die Not auch im diakonischen Pflege- und Gesundheitszentrum spitze sich ständig zu, bestätigt seine Einrichtungsleiterin Ute Gabel. Zumal auch die Anforderungen der Falldokumentation in keinem Verhältnis mehr zur Bezahlung durch die Kostenträger stünden, schließt sich Caritas-Fachkraft Regina Reick an: "Dabei sollten wir doch für die Menschen und nicht für die Akten da sein."

Die Bonner Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege hatte eingeladen, und ihre Vertreter verhehlten ihre Wut und große Sorge nicht. Es müsse endlich eine auskömmliche Vergütung der Leistungen in der ambulanten Pflege her, forderte der Vorsitzende, Caritasdirektor Jean-Pierre Schneider. "Für uns alle sind die Bedingungen, unter denen wir Pflege leisten, existenzgefährdend." Besonders jetzt im Wahlkampf tummelten sich die Parteien um das Pflegethema, man werbe mit einer angeblich erfolgreichen Pflegepolitik. "Doch mit den Krankenkassen laufen nur Hinhalteverhandlungen. Es gibt kein Zukunftsszenario", klagt Schneider. Die Situation werde für ambulante Dienste immer prekärer, die Grenzen der Rationalisierung seien längst erreicht. "Von den Kostenträgern kommen nur unannehmbare Dumpingangebote."

Auch Diakonie-Geschäftsführer Ulrich Hamacher sieht die Bonner Pflegeangebote durch ein seiner Meinung nach verantwortungsloses Verhalten der Kassen in Gefahr. "Dabei müsste sich unsere reiche Gesellschaft doch gute Pflege leisten können. Doch was derzeit passiert, ist ein Generalangriff auf die Wohlfahrtsverbände."

Welche Auswirkungen der in der praktischen Arbeit hat, erklärte Caritas-Bereichsleiterin Birgit Ratz. Beziehungspflege sei im Minutentakt nicht mehr möglich. "Wir haben über Jahre unsere Mitarbeiter ausgewrungen. Jetzt stehen wir vor dem Abgrund." Beate Hartmann, Leiterin der Sozialstation Kontaktbrücke, berichtete, wie die Mitarbeiter darunter litten, dass Pflege nur noch Fließbandarbeit sei und der Mensch zum Kostenfaktor werde. Brauche der demente alte Herr einfach einmal einen Menschen, der ihm die Hand halte, könne das der ewig gehetzte Pfleger kaum leisten. "Gute Pflege darf doch nicht nur dauernd Rechnen in vergüteten Modulen heißen. Gute Pflege ist nicht nur: satt und sauber."

Ein Sprecher der AOK Rheinland/Hamburg sagte dazu auf GA-Anfrage: "Es existieren bundesweit gemeinsame Maßstäbe, wie ambulante Pflege zu erbringen ist." Pflegedienste könnten jederzeit mit Pflegekassen über Vergütungen verhandeln. "Allerdings fordern uns viele Dienste nicht zu entsprechenden Verhandlungen auf - so dass die Pflegekassen davon ausgehen, dass die Vergütung angemessen ist." Stellten vereinzelte Pflegedienste aber plötzlich "exorbitant höhere" Forderungen, "erwarten wir als Pflegekasse natürlich Belege, aus denen sich entsprechende Kostensteigerungen nachvollziehen lassen". Dieser Pflicht kämen viele Pflegedienste bislang nicht nach, so der AOK-Sprecher. Momentan berieten die Verbände der Pflegedienste, Pflegekassen, Privaten Krankenkassen sowie die Städte und Gemeinden auf Landesebene über ein einheitliches Verfahren zur Vergütungsfindung. Bis Dezember solle hier ein Ergebnis vorliegen.

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