In der Schuldenfalle, Teil 6 Bonns Hauptstadt-Erbe oder der lange Schatten des 20. Juni 1991

BONN · Für die schlechte Haushaltslage der Stadt gibt es viele Gründe: Von den Regierungserklärungen Willy Brandts und Helmut Kohls bis zum fehlenden Ehrgeiz der Kommunalpolitik, sich auf eine Zeit ohne Hauptstadt-Zuschüsse vorzubereiten.

Der Hauptstadt-Inhalt ist weg, die teure Verpackung geblieben. "Da muss man sich ja nur Mal abends die B9 anschauen", sagt Bonns Stadtkämmerer Professor Ludger Sanders - und meint die ausgeleuchtete "Diplomaten-Rennbahn". Repräsentativ und hell sollte sie nachts wirken, und der Bund zahlte, was er bestellte. Heute zahlt nur noch die Stadt.

Die rund 12.000 Diplomaten sind weg - und damit auch jene neun Millionen, die das Land NRW jährlich als "Diplomatenzuschuss" überwies. Nicht nur als Ausgleich für unbezahlte Knöllchen. Selbst für eine saubere Hauptstadt, eine intensivere Müllbeseitigung und Straßenreinigung, gab es Zuschüsse. Insgesamt zahlte der Bund bis 1999 jedes Jahr rund 110 Millionen D-Mark, davon 70 Millionen für die Kultur.

Heute regiert die profane Geldnot in der ehemaligen Bundeshauptstadt - fast 40 Jahre nach Willy Brandts Regierungserklärung am 18. Januar 1973, in der der gebürtige Berliner das Hauptstadt-Provisorium beendete: "Wir wissen wohl, dass es einer engen Kooperation von Stadt, Land und Bund bedarf, damit Bonn seine Funktion als Hauptstadt gut erfüllen kann."

Zuvor (1965) war bereits eine Oper auf hauptstädtischem Niveau weitgehend mit Bundesmitteln errichtet worden, auch das Hallenbad Hardtberg (1969), das der Verteidigungsminister für "soldatisches Schwimmen" finanzierte.

Zudem war die Expansion des Bezirks Hardtberg (1972) auf den Weg gebracht - mit 710 Hektar damals eine der größten Entwicklungsmaßnahmen Deutschlands. 4200 Wohneinheiten in Geschossbauweise und 1200 Einfamilienhäuser für 19.500 Menschen: genug Wohnraum für die vielen Ministerialen.

Jetzt, nach Brandts Rede, folgten mehr Straßen, mehr Schulen, Bundesbauten, insbesondere die Entwicklungsmaßnahme "Bonn - Parlaments- und Regierungsviertel" (1975).

Schließlich wurde auch der Straßenbahn-Konflikt gelöst. Der Bund empfand Bonns oberirdisch ratternde Linien schon lange als wenig hauptstadtgemäß, aber die Bürger hatten sich gewehrt. Dann doch: Am 22. März 1975 wird die U-Bahn mit dem Abschnitt Hbf Bonn - Rheinallee eröffnet, während die Fußgängerzone bereits 1974 die Straßenbahn aus der Altstadt verbannt hatte.

"Wir waren damals verdammt spät dran mit der U-Bahn", erinnert sich Sigurd Panne, einst GA-Baureporter. Es habe damals ein NRW-Förderprogramm gegeben, "und Bonn sprang um 5 vor 12 noch auf den Zug". So wie Bochum und Bielefeld auch. Primär zahlten NRW und Bund für die neue Mobilität.

Neun Jahre später, inzwischen wohnten auf dem Hardtberg mehr als 30.000 Menschen, ein neuer Schub: Bundeskanzler Helmut Kohl gibt in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 den Impuls für die Museumsmeile, als er "eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 in Bonn" fordert.

Er schließt mit den Worten: "Die Überwindung der Teilung ist nur in historischen Zeiträumen denkbar." Doch die Historie macht unerwartete Sprünge: Schon am 9. November 1989 fällt die Mauer.

Entsetzen und Jubel lagen im Bundestag nie enger beieinander als im Juni 1991

Zwei Jahre später. In einer hitzigen, 12-stündigen Debatte plädieren 104 Rednerinnen und Redner pro Berlin oder pro Bonn. Danach Abstimmung. Um 21.47 Uhr des 20. Juni 1991 tritt Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ans Mikrofon: "Die Spannung ist riesengroß, ich gebe nun das Ergebnis bekannt." 337 für Berlin, 320 für Bonn.

Nie lagen Entsetzen und Jubel im Bonner Bundestag enger beieinander. Eine Sternstunde des Parlaments endet für Bonner zunächst in der trivialen Frage: Was wird das für ein Lebensgefühl sein?

Ältere Bonner erinnern sich, wie sie als Kindergartenkind zum Fähnchenschwenken an die B 9 abkommandiert wurden: John F. Kennedy, die Queen, Michail Gorbatschow, Jimmy Carter, dazu Kaiser und Könige aus aller Welt oder der Schah von Persien. Viele auf der Rathaustreppe. Das ist nun vorbei.

Nach Berechnungen der Konrad-Adenauer-Stiftung ging es auch um 59.600 Arbeitsplätze in Bonn, um 35 900 im Rhein-Sieg-Kreis. Nach Schätzungen waren 30 Prozent der Erwerbstätigen betroffen mit einem Einkommen von 6,2 Milliarden DM, einer Kaufkraft von 2,3 Milliarden DM, einem Vermögen von 21,2 Milliarden DM und Steuereinnahmen von 240 Millionen DM.

Einige glaubten 1991, jetzt gehen die Lichter aus. Es drohte das Schicksal einer Provinzstadt mit hauptstädtischen Museen. Denn Kohls Auftrag, die Museumsmeile, wurde trotz Berlin-Votum vollendet: Haus der Geschichte (1995), Bundeskunsthalle (1992) - und das mit 100 Millionen D-Mark aus der Stadtkasse bezahlte Bonner Kunstmuseum (1992).

Doch es kam alles ganz anders: Deutsche Welle, 19 UN-Einrichtungen, Deutsche Telekom und Deutsche Post entschieden sich für Bonn - und zogen zahlreiche andere Unternehmen an. Die 1994 neugewählte Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) hielt damals nichts vom Jammern, sondern engagierte sich für das neue, andere Bonn.

Ihr Nachfolger und Parteifreund Jürgen Nimptsch berichtet 18 Jahre später von einem allumfassenden Mehr: Arbeitsplätze, Übernachtungszahlen, Einwohner. Heute wird in der Bundesstadt - gegen den Bundestrend - sogar mehr geboren als gestorben. Nimptsch spricht von "Bonngold City - viele Investoren und Versorgungskassen kaufen oder bauen Immobilien in Bonn".

Entscheidung "337-320" hat einen langen Schatten

Auch der Bund hatte seinen Anteil, dass mehr Lichter an- als ausgingen. Keinesfalls wollte man sich aus der Stadt, Wiege der deutschen Nachkriegsdemokratie, sang- und klanglos verabschieden. Auf Basis des Berlin-Bonn-Gesetzes (1991) wurde 1994 eine Vereinbarung über die Ausgleichsmaßnahmen für die Region getroffen.

Bonn hieß fortan "Bundesstadt", und der Rhein-Sieg-Kreis und der Kreis Ahrweiler profitierten auch. Unter Gesamtdotierung ist zu lesen: "2,81 Mrd. DM = 1,437 Mrd. EUR." Davon wurden 90 Ausgleichsprojekte und weitere 200 Einzelmaßnahmen unterstützt.

Allein 1,1 Milliarden flossen zum Ausbau des Wissenschaftsstandorts, etwa in das Forschungszentrum Caesar und die Fachhochschule Bonn/Rhein-Sieg, sowie in Verkehrsprojekte. 60 weitere Millionen gab es für die Kultur.

Zudem erhielt man den Titel "Bundesstadt". Damit es eines Tages einmal "Bonn, die UN-Stadt" heißt, schenkte der Bund das Grundstück für ein - noch zu bauendes - World Conference Center Bonn (WCCB) im Wert von 43,46 Millionen und füllte einen Ausgleichstopf mit 38,4 Millionen, woraus WCCB-Betriebskostendefizite kompensiert werden sollten.

Doch hat die Entscheidung "337-320" vom 20. Juni 1991 einen langen Schatten - bis in die Bonner Stadtkasse des 21. Jahrhunderts. Das Infrastruktur-Erbe einer Ex-Bundeshauptstadt ist in Deutschland ein wirtschaftliches Alleinstellungsmerkmal. Gäbe es ein Theater Bonn? Ein Beethoven-Orchester, das analog der Angestelltenzahl in der höchsten Gehaltskategorie A musiziert?

Eine Museumsmeile mit städtisch finanziertem Kunstmuseum? Eine U-Bahn? Internationale Schulen? Das B9-Beleuchtungsproblem? Vieles mehr gäbe es heute in Bonn nicht ohne die 50-jährige Hauptstadtära (1949 bis 1999). Das alles kostet und steigert in einer Zeit wachsender kommunaler Verschuldung Bauchschmerzen und Sparzwänge. Darauf weist Kämmerer Sander auch von Jahr zu Jahr immer wieder neu hin:

  • Erstens: "Die direkten und indirekten Belastungen der Deutschen Einheit, wobei sich allein die direkten Belastungen seit 1991 auf bereits über 200 Mio. EUR belaufen."
  • Zweitens: "Die aufgrund des Wegfalls der Hauptstadtfunktion auf Null gekürzten Bundesmittel."
  • Drittens: "Die in allen Bereichen sehr gute Bonner Infrastruktur - nach wie vor auf Hauptstadtniveau - mit der Konsequenz hoher Folgekosten."

Viertens, könnte man hinzufügen, wäre das WCCB ohne Hauptstadt-Beschluss nicht in Bonn geboren worden. Als "Null-Euro-Projekt" 2005 gestartet, geriet es bereits im Geburtsjahr der Beethoven-Festspielhaus-Idee (2007) auf die schiefe Bahn, jedoch zunächst fernab der Öffentlichkeit.

Als das unfertige WCCB im Herbst 2009 öffentlich wie ein Kartenhaus zusammenklappte, begann einer der kompliziertesten Insolvenzfälle Deutschlands und ein Wirtschaftskrimi zwischen Seoul, Bonn, Hawaii und Zypern. Wie er ausgeht, ist ebenso ungewiss wie die Tiefe des Millionengrabs für Stadt und Steuerzahler.

Während die Bürger sich an die vielen Annehmlichkeiten durch die Jahrzehnte gewöhnt haben, verdrängte die Kommunalpolitik, dass mit dem Wegfall der Bundesmittel und der Aufrechterhaltung einer Hauptstadt-Infrastruktur nach Adam Riese zwangsläufig zwei Züge aufeinander zurasen und das mitverursachen, wenn Kämmerer Sander von einem "strukturellen Defizit" spricht. Zwar zeichnete sich das Szenario spätestens seit 1994 ab, aber ein Abbau hauptstädtischer Standards unterblieb.

Gleichzeitig reifte ein neuer Wunsch heran: 2020 feiert Bonn den 250. Geburtstag seines weltberühmten Sohnes Ludwig van Beethovens. Die Frage ist nur: Wo? In einer renovierten Beethovenhalle oder in einem - so das Ziel - privat finanzierten Beethoven-Festspielhaus?

Seit 2007 wird diskutiert, klafft bis heute bei den Finanziers eine Millionen-Lücke, während die Debatte von einer klammen Stadtkasse begleitet wird. Das seit Jahren am Haushaltssicherungsgesetz vorbei jonglierende Bonn steht mit dem Rücken zur Wand.

Der Rückbau einer Infrastruktur ist leichter gefordert als umgesetzt - vor allem so, dass er spürbare Spareffekte erzielt. Bei der Schließung von Oper/Schauspiel bliebe der Hauptbatzen, die Personalkosten, erst einmal bestehen. Der Betriebswirt nennt das "Remanenzkosten".

Die Verwaltung verkleinern bei wachsender Bevölkerung?

Die U-Bahn einmotten? Absurd. Die Musiker des Beethoven-Orchesters entlassen? Noch absurder. Das Kunstmuseum? Und wer soll dann das Gebäude nutzen? Zudem wäre das Museumsmeilen-Konzept zerstört. Grundschulen? Geht nicht wegen des - erfreulichen - Geburtenüberschusses. Die Verwaltung verkleinern? Bei wachsender Bevölkerung?

Es gibt viele gute Gründe, hier und dort nicht zu sparen. Nun ist die Bundesstadt in die Zwickmühle geraten - zum Beispiel zwischen Sanierungsstaus in fast jedem Stadtwinkel und einer im bundesweiten Vergleich exorbitanten Kulturförderung. Im Kulturfinanzbericht 2010 steht Bonn mit seinen Kulturausgaben pro Einwohner bundesweit auf Rang 6, während OB Nimptsch gar von "rund 187 Euro in 2013" berichtet.

Die Bundesstadt wird für ihr Kultur-Investment regelmäßig gelobt. Zum Beispiel von der Privatbank Berenberg und dem Hamburger Weltwirtschafts-Institut (HWWI). Beide haben ein Kulturstädte-Ranking 2012 der 30 größten deutschen Städte veröffentlicht.

Auszüge: Bonn liegt bei den Bibliotheken mit rund 13 Euro pro Einwohner auf Rang 26, bei den Kinoplätzen im Mittelfeld, mit der Zahl der in der Kulturwirtschaft Beschäftigten auf Rang 9, bei den Theater- und Opernsitzplätzen je 1000 Einwohner mit Abstand auf Platz 1.

Der Drahtseilakt, das üppige Leistungsangebot zu erhalten, gelang so lange ohne einen Hoheitsverlust über die eigenen Finanzen, wie die Infrastruktur weitgehend ohne Instandhaltung funktionierte. Und bei schrittweisem Verzehr des Eigenkapitals und weiterer Verschuldung. Nun drückt der Schuh an allen Ecken. Selbst die überfällige Grundsanierung des eigenen Stadthauses wird wieder einmal verschoben.

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