Versorgung im häuslichen Umfeld Bonner Modellprojekt soll Wege aus Psychokrise bieten

Bonn · Die Bonner LVR-Klinik testet Therapien, die eine ambulante Betreuung ihrer Patienten zu Hause ermöglichen. Auch die Kassenärztliche Vereinigung sieht darin eine Chance, die hohe Nachfrage in den Psychiatrien besser bedienen zu können.

 Claudia Jungfer arbeitet als Bewegungstherapeutin für die LVR-Klinik. Patienten, die bereits ambulant versorgt werden, können an solchen Programmen teilnehmen.

Claudia Jungfer arbeitet als Bewegungstherapeutin für die LVR-Klinik. Patienten, die bereits ambulant versorgt werden, können an solchen Programmen teilnehmen.

Foto: Benjamin Westhoff

Wie soll man glücklich werden, wenn einem der Tod allzu früh begegnet? Nicht der eigene, aber der Tod der Eltern. Erst stirbt der Vater, kurz darauf die Mutter. Da ist die Bonnerin, die heute 58 Jahre alt ist, noch ein Kind. „Das beschäftigt mich bis heute, irgendwie ist dieser Gedanke in mir konzentriert”, sagt sie. Im März dieses Jahres hat sie gegen starke Ängste zu kämpfen. Ängste sind ihr wohlbekannt, aber dieses Mal ist es besonders schlimm. Sie spricht rückblickend von „sehr depressiven Phasen” und wendet sich an die Psychiatrie der Bonner LVR-Klinik am Kaiser-Karl-Ring. Zunächst kommt sie in stationäre Behandlung und dann – außergewöhnlich schnell – in ein flexibles Programm, das ihr die Rückkehr in die eigene Wohnung und zugleich die weitere Therapie in den Landeskliniken ermöglicht.

DynaLIVE heißt dieses Modellprojekt, das die Landeskliniken Anfang 2017 gestartet haben. „Es ist zu früh für eine Evaluierung, aber wir sind mit den bisherigen Erfahrungen sehr zufrieden”, sagt Michael Schormann, Chefarzt der Allgemeinen Psychiatrie II an der LVR-Klinik. Mit Unterstützung einiger Krankenkassen ist das zunächst auf acht Jahre angesetzte Projekt ins Leben gerufen worden. Die Ärzte hoffen nicht nur, dass der „Drehtür-Effekt” nachlässt, also die allzu regelmäßige Rückkehr der Patienten. Schormann sagt, jeder vierte Patient in der Psychiatrie komme im Laufe eines Jahres ein zweites Mal in Behandlung. „Wir erwarten bessere Behandlungsergebnisse und eine bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten”, erklärt der Ärztliche Direktor der LVR-Klinik, Markus Banger.

Flexibilität der Mitarbeiter

Zum neuen Angebot gehört die Versorgung im häuslichen Umfeld der Patienten. Der Vorteil, den Banger und Schormann sehen: Die Patienten behalten auch außerhalb der Klinik zunächst ihre Bezugspersonen und müssen sich nicht übergangslos an einen neuen Therapeuten gewöhnen. Das erfordere im eigenen Haus Flexibilität der Mitarbeiter und durchaus aufwendige Fortbildungen für die Belegschaft. Beides führe letztlich zu mehr Eigenverantwortung der eigenen Angestellten. Damit einher gehe die Umstellung auf Behandlungsteams, die einen Patienten bis zum Schluss betreuten.

Unterstützt wird DynaLIVE von der Techniker Krankenkasse (TK), der Barmer, der DAK Gesundheit, der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH), der Hanseatischen Krankenkasse (HEK) und der Handelskrankenkasse (hkk). Ulrich Adler, Leiter regionales Vertragswesen der TK in Nordrhein-Westfalen, hält die Idee für „überzeugend“. „Uns ist klar, dass die Umsetzung innerhalb der Kliniken eine große Herausforderung für alle Beteiligten ist“, sagt Adler. Die Mitarbeiter müssten sich weiterbilden und offen für Veränderungen in ihrem Beruf sein. In Bochum gebe es ein ähnliches Projekt. Bisher habe man in beiden Fällen keine negativen Erfahrungen gemacht, auch wenn eine Evaluierung noch ausstehe.

Auch vonseiten der niedergelassenen Therapeuten habe es bislang keine Beschwerden darüber gegeben, dass die Mischung aus stationärer und ambulanter Versorgung ihnen Patienten wegnehme. Um zu verstehen, warum eine solche Mischung aus stationärer und heimischer Therapie zuvor im Portfolio der Klinik nicht zu finden war, muss man die Versorgungslandschaft erklären: Häuser wie die LVR-Kliniken konzentrieren sich auf die stationäre Behandlung, um den niedergelassenen Psychiatern und Therapeuten nicht in die Quere zu kommen.

Lange Wartezeiten

Erst eine Änderung im Sozialgesetzbuch, die 2012 in Kraft trat, ebnete den Weg für Modellprojekte wie DynaLIVE. Konfliktpotenzial sehen Banger und Schormann durch diesen Ansatz kaum. „DynaLIVE wird von den Krankenkassen wie eine stationäre Behandlung bezahlt, aber flexibel auf die Bedürfnisse der jeweiligen Patienten zugeschnitten”, sagt Schormann. Die Arbeit für die Niedergelassenen im Anschluss bleibe unberührt und werde nicht weniger.

Die variablen Möglichkeiten, für die der Gesetzgeber den Weg frei gemacht hat, sind der Versuch, Antworten auf eine gesellschaftspolitische Frage zu finden: Wie sieht die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen in der Zukunft aus? „Wir platzen schon jetzt aus allen Nähten, unsere Plätze sind durchgehend besetzt und die Wartezeiten lang, wenn es nicht um Notfälle geht”, sagt Banger.

Eine Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2013 hat ermittelt, dass 32 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland zwischen 18 und 65 Jahren (also die Berufstätigen) unter einer oder mehreren psychischen Störungen leidet. Nicht alle nutzen die bestehenden Hilfsangebote. Die Krankenkassen verzeichnen in den letzten Jahren eine stetige Zunahme an Berufsausfällen durch psychische Erkrankungen. DynaLIVE ist also auch ein Versuch, auf den vorhandenen stationären Plätzen mehr Menschen versorgen zu können. Die Alternative wäre, mehr stationäre Betten oder zusätzliche Psychiatrien auszuweisen, um die prognostizierte Zunahme der Patienten bewältigen zu können. In der LVR-Klinik glaubt man aber zudem in vielen Fällen an die positive Wirkung bei einer schnellen Rückkehr ins bekannte Umfeld.

Heilung ist langwieriger Prozess

In Schormanns Büro sitzt eine 28-jährige Mutter aus Bonn, die mit ihrem kleinen Kind gekommen ist. Kurz nach der Geburt fiel sie in eine tiefe Depression. Gefühle der Niedergeschlagenheit kannte sie auch schon vorher. Aber dieses Mal war die Verzweiflung so groß, dass sie keinen anderen Ausweg wusste, als sich vorübergehend in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Weg vom Mann, weg vom Neugeborenen. „Ich war froh und dankbar, als ich erfahren habe, dass ich die Chance habe, die Therapie nach meinen Bedürfnissen fortzusetzen“, sagt sie.

Die Heilung psychischer Probleme ist oft ein langwieriger Prozess. Und so sagt die 58-jährige Bonnerin, die so früh ihre Eltern verloren hat, kurz vor Ende ihrer Therapie zu Michael Schormann: „Ich weiß gar nicht, ob ich mich mal glücklich gefühlt habe in meinem Leben.“ Dann schiebt sie einen Satz hinterher. „Doch, als Sie mir gesagt haben, ich kann nach Hause zu meinem Hund, das war schon ein Glücksgefühl.“

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