„Wir kommen an unsere Grenzen“ Scheidender Bonner Kripo-Chef blickt zurück und warnt

Bonn · Der scheidende Bonner Kripo-Chef Norbert Wagner blickt im GA-Interview zurück auf seine Zeit in der Bonner Behörde. Er beschreibt, welcher Kriminalfall für ihn in den vergangenen Jahren prägend war. Sorgen bereitet ihm die steigende Arbeitsbelastung.

Norbert Wagner

Norbert Wagner

Foto: Benjamin Westhoff

Gut vier Jahre lang leitete Norbert Wagner die Geschicke der Bonner Kripo, Ende Januar geht er in den Ruhestand. In dieser Zeit hat sich einiges getan. 2018 verzeichnete die Polizei weniger Einbrüche, weniger Kriminalität auf den Straßen. Doch es gibt auch Negatives: Die Zahl der Sexualdelikte ist gestiegen, Betrüger haben es verstärkt auf Senioren abgesehen. Außerdem steigt die Belastung der Kriminalpolizei stetig, viele Beamte gelangen an ihre Belastungsgrenze. Über seine Zeit in Bonn, die guten und die schlechten Seiten, sprach Ayla Jacob mit Kripo-Chef Wagner.

Sie sind seit 2016 in Bonn. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Kriminalität in dieser Zeit in Bonn und der Region?

Norbert Wagner: Positiv. Insgesamt hat sich die Kriminalitätsrate sehr erfreulich entwickelt. Das gilt insbesondere für die Delikte der Straßenkriminalität und noch stärker für den Bereich des Wohnungseinbruchs.

Woran machen Sie das fest? Gibt es weniger Straftäter oder ist die Polizei besser geworden?

Wagner: Beim Einbruch ist es ein Bündel von Maßnahmen. Bonn war mal die Hauptstadt des Wohnungseinbruchs. Da hat die Behörde einen strategischen Schwerpunkt gesetzt. Seit 2013 sind die Zahlen permanent rückläufig. Wir haben viel Personal, aber auch viel Herzblut eingesetzt, um das zu erreichen. Wichtig ist aber auch anderes: Dass der Wohnungseinbruch mittlerweile ein Verbrechenstatbestand ist, hat uns sehr geholfen. So haben wir andere, tiefgreifendere Ermittlungsmöglichkeiten. Natürlich spielt es auch eine Rolle, dass die Täter empfindsam bestraft werden. Das fängt bei U-Haft an und geht bis zu empfindlichen Haftstrafen.

Die Aufklärungsquote lag 2018 bei rund 27 Prozent. Warum ist es so schwer, Einbrecher festzusetzen?

Wagner: Wir brauchen Spuren und Beweise. Wir müssen Straftäter erkennen. Dazu haben wir die Weichen gestellt. Wir schöpfen unsere rechtlichen Möglichkeiten aus, verwerten umfassend beispielsweise DNA-Spuren.

Gab es in den vergangenen vier Jahren auch negative Entwicklungen?

Wagner: Ja. Nicht so erfreulich sieht es bei Sexualstraftaten und bei Betrugsdelikten zum Nachteil älterer Menschen aus. Dazu gehört der Bereich „falsche Amtsträger“.

Wie erklären Sie sich das?

Wagner: Zum einen wäre da das veränderte Anzeigenverhalten nach der Silvesternacht 2015/2016 in Köln. Seitdem finden erfreulich viele Frauen den Weg zur Polizei, die sexuell belästigt worden sind. Was den Missbrauch von Kindern angeht, haben wir landes- und bundesweit ein gravierendes Problem. Das ist in diesem Jahr ein Tsunami gewesen. Es werden weit mehr Straftaten bekannt, auch das Internet spielt eine Rolle. Und die Ermittlungen in diesem Bereich erfordern einen immensen Aufwand.

Wie äußert sich dieser Mehraufwand?

Wagner: Die Gesellschaft schockierende Ereignisse wie zum Beispiel in Lüdge oder Bergisch-Gladbach führen zu einem Umdenken. Die Bereitschaft, frühzeitig die Polizei zu informieren, steigt. Es gibt mittlerweile polizeiliche Zentralstellen und Nicht-Regierungsorganisationen, die gezielt nach verdächtigem Material im Netz suchen. Wird etwas gefunden, wird es an die örtlichen Dienststellen weitergeleitet. Das bedeutet mehr Verfahren. Außerdem explodiert die Datenmenge, die ausgewertet werden muss. Die steigenden Leitungskapazitäten bieten den Tätern viele Chancen. Aber: Wir können ermitteln und finden vielfach die Täter.  Das ist das Gute: Wir haben in diesem Bereich eine hohe Aufklärungsquote. Sie liegt bei nahezu 80 Prozent. Dennoch ist es ein Dilemma.

Inwiefern?

Wagner: Die Schere zwischen der steigenden Zahl an Verfahren und der gleichbleibenden Zahl an Ermittlern bringt uns an die Grenze der Belastbarkeit. Das ist etwas, was mich persönlich betrifft. Ich habe am Ende meiner Laufbahn nur ein Problem: eine zu dünne Personaldecke. Wir könnten und wollten mehr, kommen aber an unsere Grenzen. Das bereitet mir Sorgen und belastet mich, weil ich als scheidender Kripo-Chef dieses Problem nicht mehr lösen kann.

Gibt es denn überhaupt einen Weg?

Wagner: Das Ministerium spricht davon, das Problem mit „intelligenter Schwerpunktsetzung“ zu lösen. Wir bemühen uns in der Richtung und versuchen, alles Mögliche zu tun. Ich bin sehr stolz auf die Kollegen. Das Engagement ist beeindruckend. Aber die Erwartungen sind seitens der Politik, der Medien und der Gesellschaft immens. Man hat die Personalproblematik über Jahre negiert. Nun will man das ändern. Aber es dauert – oh Wunder – bis man fertige Kriminalisten hat. Außerdem ist der Arbeitsmarkt leer gefegt. Auf der anderen Seite hat man Möglichkeiten ergriffen, zum Beispiel durch den Einsatz von Tarifbeschäftigten. Und: Mittlerweile sucht sogar der Minister nach Pensionären, die bereit sind zurückzukommen.

Thema Betrug: Wie bewerten Sie die Entwicklung in diesem Bereich?

Wagner: Gravierend. Mit Blick auf Enkeltrickbetrug und die Masche „falsche Amtsträger“ ist vor allem in der Bonner Behörde ein eklatanter Anstieg im vergangenen und in diesem Jahr festzustellen. Wie auch bei den Sexualdelikten verlagern sich die Taten mehr und mehr ins Internet, das den Tätern viele Tatgelegenheiten bietet. Es ist leider auch die Kriminalitätsplattform der Zukunft.

Wie kann man dagegen vorgehen?

Wagner: Es sind besondere Herausforderungen, auch auf Grund der rechtlichen Rahmenbedingungen, die wir haben. Diese zeigen der Polizei sehr viele Grenzen auf. Außerdem benötigen wir externe Experten, von denen wir in der Vergangenheit in NRW zum Glück viele einstellen konnten. Darüber hinaus haben wir in diesem IT-Bereich gezielt Kollegen fortgebildet. Zusätzlich ist für uns in Bonn das Cyber-Security-Cluster immens wichtig. Hier engagieren wir uns als örtliche Polizeibehörde gemeinsam mit Global Playern der Wirtschaft, wissenschaftlichen Instituten und Fachbehörden des Bundes. Hier ist ein enges Netzwerk entstanden, das für alle viel Potenzial bietet.

Bezieht sich diese Arbeit ausschließlich auf die Strafverfolgung?

Wagner: Nein. Wir haben als Polizei ja auch den Auftrag, Straftaten zu verhindern. Ein Beispiel: Betrüger haben sich in diesem Jahr bereits circa 2500 Mal als Amtsträger ausgegeben. Das ist eine Menge. Aber wir sind stolz darauf, dass die Täter hier in Bonn in weniger als einem Prozent erfolgreich sind. Das erreichen wir zum einen über eine intensive Aufklärungsarbeit, die wir unter anderem über die sozialen Netzwerke leisten. Aber wir bemühen uns natürlich auch, technisch nachzuziehen. In den USA zum Beispiel gibt es eine Software, die Alarm schlägt, sobald jemand mit einer gefakten Nummer anruft. Wird das Telekommunikationsgesetz novelliert, kann sie auch hier eingesetzt werden.

Spielt Salafismus in Bonn noch eine Rolle?

Wagner: Ja, eine ganz besondere. Das liegt unter anderem an dem Status als ehemalige Bundeshauptstadt, aber auch daran, dass hier die König-Fahd-Akademie angesiedelt war. In Bonn ist das Spektrum der Menschen, die wir dem islamistisch-terroristischen Bereich zuordnen, relativ hoch.

Können Sie Zahlen nennen?

Wagner: Die Zahl ist im Vergleich zu anderen Städten relativ hoch. Bonn steht zwar nicht an erster Stelle, wir sind aber in einem relevanten Bereich. Konkrete Zahlen möchte ich nicht nennen. Nur so viel: Die Zahl bleibt ungefähr gleich, es gibt keine wesentlichen Änderungen.

Gibt es örtliche Schwerpunkte in Bonn?

Wagner: Nein.

Wie sieht es mit Rückkehrern aus?

Wagner: Wir haben viele Menschen aus dem islamistisch-terroristischen Spektrum, die unter anderem nach Syrien ausgereist sind. Wir haben ein Auge darauf, ob sie eventuell zurückkehren.

Was war für Sie in den vergangenen Jahren prägend?

Wagner: Prägend waren die Ereignisse rund um den Tod von Niklas Pöhler. Was danach im Bereich Jugendkriminalität folgte, ist sehr positiv. Wir sind in Bad Godesberg eingebunden, wir waren in die Entwicklung des Gewaltpräventionskonzepts eingebunden. Außerdem haben wir gelungene Projekte wie „Kurve kriegen“ und „klarkommen!“ initiiert, sowie gemeinsam mit Jugendamt und Staatsanwaltschaft ein virtuelles Haus des Jugendrechts eingerichtet. Das ist sehr wirksam. Aus den verschiedenen Behörden sitzen Vertreter an einem Tisch und beraten über junge Menschen auf dem Weg zum Intensivtäter. Durch Prävention und Strafverfolgung wollen wir gemeinsam erreichen, dass sie wieder die Kurve kriegen und ohne Straftaten in ihrem Leben klarkommen.

Gibt es einen Stadtteil, den die Polizei besonders im Blick hat?

Wagner: Tannenbusch spielt für uns eine wesentliche Rolle. Wir wollen erreichen, dass dort die Drogen- und die Straßenkriminalität zurückgehen. In den vergangenen drei Jahren haben wir den Tätern im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität insgesamt mehr als 125 Jahre Gefängnis verschafft. Wir haben gegen mehr als 1000 Menschen Strafverfahren durchgeführt.

Haben Sie es je bereut, nach Bonn zurückgekommen zu sein?

Wagner: Im Gegenteil. Es war eine gute Entscheidung, die ich unter enger Beratung mit meiner Frau getroffen habe. Bonn ist eine Stadt, die ich kenne und sehr gerne mag. Ich konnte mit teilweise altvertrauten Kollegen in einem neuen Umfeld überlegen, was wir wie verändern und verbessern können. Das war toll.

Was haben Sie nach der Pensionierung vor? Können Sie ohne Arbeit leben?

Wagner: Ich denke schon. Ich habe ehrenamtliche Vorstellungen, zum Beispiel in der katholischen Kirche, kümmere mich aber auch um eine ehemalige Synagoge. So kann ich das ein oder andere zurückgeben. Ich bin stolzer Vater und Großvater von drei Kindern und drei Enkeln. Sie und meine Frau hoffen, dass ich ein bisschen Zeit mitbringe. Dann habe ich auch noch persönliche Interessen. So sage ich nach fast 44 Jahren: Alles hat seine Zeit. Und das ist auch gut so.

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