Bürgerrechtler erzählt Schülern von DDR Besser als jedes Geschichtsbuch

SÜDSTADT · Normalerweise kommen die Schüler wegen zusätzlichen Fragen zu Bürgerrechtler Lutz Rathenow, wenn er seine Vorträge beendet hat. Gestern im Clara-Schumann-Gymnasium fragten zwei Jugendliche mit dem Handy in der Hand nach einem "Selfie", einem Selbstporträt.

 Nach dem Vortrag machen zwei Schüler des Clara-Schumann-Gymnasiums ein "Selfie", ein Selbstporträt, mit Lutz Rathenow.

Nach dem Vortrag machen zwei Schüler des Clara-Schumann-Gymnasiums ein "Selfie", ein Selbstporträt, mit Lutz Rathenow.

Foto: Nicolas Ottersbach

"Das hat es früher nicht gegeben", sagte Rathenow trocken.

So distanziert waren seine Geschichten und Gedichte nicht, die der 62-Jährige den 14- bis 16-Jährigen in der Aula erzählte und vortrug. "Es ist total interessant, wenn jemand als Zeitzeuge Einblicke gibt. Das ist viel besser, als etwas aus dem Geschichtsbuch zu erfahren", sagte der 15-jährige Timm.

Ihm und seiner Mitschülerin Anna blieb vor allem in Erinnerung, dass Rathenow zu DDR-Zeiten 30 Stunden am Stück verhört wurde. Ohne zu schlafen. "Das kann man sich gar nicht vorstellen", so Timm. Solche Zustände gebe es nur in Diktaturen.

Rathenow, der in Jena aufwuchs und als Lehrer Deutsch und Geschichte studierte, wurde Anfang 1977 wegen "Zweifeln an Grundpositionen, Objektivismus und Intellektualisieren der Probleme" exmatrikuliert. Vorher hatte er den oppositionellen Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena, der 1975 von Kulturfunktionären und im Hintergrund von der Stasi verboten wurde. "Spätestens seit dem 30-Stunden-Verhör galt ich als Staatsfeind, weil ich danach Kontakt zur amerikanischen Botschaft aufnahm", sagte Rathenow.

Allerdings habe man ihn dann, wie er später aus seinen Stasi-Akten erfuhr, ziehen lassen. "Weil es wohl genug Menschen gegeben hat, gegen die man mehr hätte unternehmen müssen." Eine Schülerin fragte, ob man versucht habe, ihn als Spitzel zu gewinnen. Rathenow antwortete, dass ihm das Verhör nach einem Standortwechsel "komisch" vorkam. Auch dazu erfuhr er später aus den Akten, dass die Staatssicherheit versucht habe, so viele Informationen wie möglich aus ihm herauszubekommen. Und zu testen, wie belastbar seine Psyche ist. "Aber ich lehnte alles ab."

Organisiert hatte die Diskussionsrunde mit 120 Schülern Lehrer Jochen Leyhe. "Im Unterricht haben wir schon viel über die Wiedervereinigung gesprochen, weil sie sich zum 25. Mal jährt", sagte er. Leyhe wandte sich an die Friedrich-Naumann-Stiftung, die den Kontakt zu Rathenow herstellte und seinen Auftritt finanzierte.

Rathenow ist bundesweit unterwegs. "Die Schüler unterscheiden sich in Ost und West kaum, in Dresden oder Rostock kommt es vor, dass jemand Eltern hat, die von den Erfahrungen im DDR-System erzählen", sagte Rathenow. Aber auch am Clara-Schumann-Gymnasium sei man gut vorbereitet gewesen. So wurde auch gefragt, was er vom Umbau der ehemaligen Stasi-Zentrale zum "Campus der Demokratie" halte. "Das ist eine gute Sache, weil es ein Platz zum Erinnern ist."

Zur Person

Lutz Rathenow wurde 1952 in Jena geboren, lebte und studierte dort. Als Lyriker und Prosaautor eckte er bei der DDR-Regierung an und wurde stets beobachtet. Er verfasste schon lange vor dem Mauerfall mehrere Bücher und Texte, die sich mit seinen Erlebnissen in Ostdeutschland beschäftigten und in denen er sich kritisch mit dem Regime auseinandersetzte. Seit März 2011 ist er Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.

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