Wie eine Flüchtlingsfamilie Deutschland erlebt Auf dem Sprung ins neue Leben

KREIS GÜTERSLOH/BONN · Von Mossul über Bonn in die ostwestfälische Provinz: Wie eine Flüchtlingsfamilie aus dem Nordirak in Deutschland den Alltag bewältigt.

 In Mastholte-Süd kann die Familie zur Ruhe kommen. Der Kreis Gütersloh ist dünn besiedelt.

In Mastholte-Süd kann die Familie zur Ruhe kommen. Der Kreis Gütersloh ist dünn besiedelt.

Foto: Jennifer Zumbusch

Mastholte also. Etwas mehr als 6000 Einwohner. Südlicher Kreis Gütersloh, wo es mehr Kühe als Menschen gibt. Dahin hat es Mohamed, Hiba und ihre drei Kinder Sidra, Yusuf und den kleinen Aws verschlagen. Die deutsche Regierung hat sie dort in einer eigenen Wohnung untergebracht. Die nächste Station auf dem Weg ins neue Leben, nachdem sie aus ihrer Heimat im nordirakischen Mossul geflüchtet sind – über Syrien, die Türkei, durch halb Europa über die Balkanroute nach Wien, München, Dortmund und Bonn, wo die Bezirksregierung sie drei Monate in der Ermekeilkaserne unterbrachte.

Mastholte also: Ein kleiner Bus fährt einen vom Bahnhof an den Rand der ostwestfälischen Ortschaft. Er fasst vielleicht zwei Dutzend Pendler. Die meisten Gütersloher setzen aufs Auto in dieser Gegend.

Ein idyllischer Ort an einem schönen Frühlingstag. Mohamed möchte ein Foto machen, er macht gerne Fotos. Es war sein Beruf. Aber er durfte ihn am Ende in seiner Heimat nicht mehr ausüben. Man mag nun denken, an einem Fotografen, der viel auf Hochzeiten und Schulveranstaltungen gearbeitet hat, ließe sich doch nichts aussetzen. Im Nordirak ticken die selbst ernannten Gotteskrieger anders: „Zuerst haben sie mir die Kostüme verboten. Dann haben sie mein Auto zerstört und mein Atelier verwüstet. Am Ende war alles ein Problem“, sagt er. Sie, das seien die Mitglieder des sogenannten Islamische Staates (IS), der all sein Tun mit der einzig wahren Religion begründet.

Eine Flüchtlingsfamilie in Deutschland: Auf dem Sprung ins neue Leben
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Mehr als 4000 Kilometer weit weg von der Heimat laufen die Dinge mittlerweile etwas runder als noch zu Beginn in Deutschland. Als die Familie, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, im September in München ankam, plagte alle ein Ausschlag an den Armen. Kein Wunder nach einer Flucht, die mehr als ein Jahr gedauert hat. Nach ärztlicher Behandlung und einem kurzen Zwischenaufenthalt in Dortmund wurden sie in der Bonner Ermekeilkaserne untergebracht und konnten etwas zur Ruhe kommen. Sie bezogen als Familie ein Zimmer mit Hochbetten. Spaziergänge mit Kinderwagen durch die Straßen. Hiba und Mohamed sind Stadtmenschen. Ihr Orientierungssinn funktioniert gut im Menschentrubel.

Die 28-Jährige machte ihre ersten Erfahrungen mit dem liberalen Deutschland: Ihr Mann Mohamed hatte ihr das Radfahren beigebracht. Radfahren: Das ist im Irak für Frauen streng verboten. Aber das Aufeinanderhocken mit anderen Flüchtlingen und Migranten auf wenig Raum offenbarte mit den Wochen und Monaten auch seine Schattenseiten. Es war trotz Sicherheitsdienst schon mal zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen, vor allem unter den Männern.

Was war das für eine Freude, als die fünfköpfige Familie Anfang Dezember ihren Namen auf einer der Listen fand, die in der Ermekeilkaserne täglich aufs Neue ausgehängt wurde. Der nächste Fortschritt, so glauben sie. Doch landen die fünf in einer provisorischen Turnhalle im Kreis Gütersloh. „It's prison“, sagt Hiba und wollte am liebsten wieder umkehren. Mehr Enge, mehr Lärm, mehr Stress. Sie versuchten, soweit es ihnen möglich war, ein bisschen Privatsphäre zu schaffen und die ihnen zugeteilten drei Hochbetten mit Decken blickdicht zu machen. Insgesamt war es für die Familie ein Rückschritt im Vergleich zur Kaserne, auf den sie nicht gefasst waren und auf den sie niemand wirklich vorbereitet hatte.

Heute leben sie in einer Zweieinhalb-Zimmer-Mietwohnung mit einem Balkon, auf den zur Mittagsstunde die Sonne scheint. Eine ehrenamtliche Patin, die sich um die Familie kümmert, hat das organisiert. In der kleinen Küche verbringt Hiba trotz des knappen Geldes kulinarisch wahre Wunder. Biryani, ein arabisches Gericht mit Reis, Fadennudeln, Kartoffeln, Rosinen, Nüssen, Hühnchen und einer geheimen orientalischen Gewürzmischung, steht duftend auf dem Tisch. Dazu gibt es selbst gebackenes Brot. Und den Gästen wird stets der vollste Teller zugeteilt. Die Kinder schaufeln von einer gemeinsamen Portion. Man neckt sich und lacht miteinander.

Doch steckt diese ganze Flucht, die sich über mehr als ein Jahr erstreckte, tief in ihnen drin. „Die Kinder schlafen in der Nacht sehr unruhig“, sagt Jennifer Zumbusch. Die Bonner Fotografin hat schon in der Ermekeilkaserne damit begonnen, Bilder von der Familie zu machen. Regelmäßig kommt sie immer noch zu Besuch und ist längst zur Freundin geworden. Mohamed nennt sie seine Schwester. Seine leibliche Mutter, die Geschwister und Neffen hat er im Nordirak zurücklassen müssen. Das belastet ihn. Er hält Kontakt, vor allem über das Internet. Doch Kontakt zu halten, bedeutet auch, dass aus der Ungewissheit, wie es der Familie im Irak gehen könnte, die Gewissheit werden kann, dass es nicht gut läuft. Mohamed erfährt, dass ein Familienmitglied krank ist, aber die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist. In diesen Tagen sind viele irakische Städte wieder stark unter Beschuss.

Yusuf (8 Jahre) und Sidra (10) gehen mittlerweile gemeinsam in die Klasse 1 b der Rudolf-Bracht-Grundschule. „Es gab anfangs die Empfehlung, beide Geschwister in der Schule voneinander zu trennen. Aber der Junge bekam Panikattacken und schrie jedes Mal, wenn seine Schwester den Raum wechselte“, sagt Schulleiterin Bärbel Hilgenkamp. „Ich dachte, das kann nicht richtig sein, wenn der Junge so leidet. Jetzt sind sie in einer Klasse. Und beide machen sich richtig gut.“

Hilgenkamp ist eine resolute Frau. Sie unterrichtet die Klasse selbst, in der fünf Ausländer, die praktisch keine Deutschkenntnisse haben, zu integrieren sind. Es funktioniere, sagt sie. Die Veränderungen durch die Flüchtlingswelle stoßen bei den Eltern weitgehend auf Akzeptanz, bei den Kindern sowieso, erzählt die Lehrerin. „Ich stehe auf dem Standpunkt: Wenn ich ein Problem habe, muss ich es lösen. Mir sind da konstruktive Vorschläge lieber als ständiges Gemecker.“ Die Kinder tauchen in ein „Sprachbad“ ein, es wird nur Deutsch gesprochen im Schulunterricht. Die deutschen helfen den ausländischen Kindern in kleinen Gruppen. Jennifer Zumbusch sagt, Sidra habe schon nach der ersten Schulwoche mit ihr auf Deutsch telefonieren können.

Diese Form des Unterrichts kann aber auch zu Missverständnissen führen. Als Vater Mohamed seine Kinder in der Schule besucht, schimpft er anschließend, weil er glaubt, sie hätten sich nicht ordentlich beteiligt. Jennifer Zumbusch erklärt es dann.

Es ist seltsam, sagt sie, wie schnell dieses gegenseitige Vertrauen zu Mohamed da war. In Bonn hat sie mit ihrem Fotoprojekt begonnen, weil dieser Gegensatz im Raum stand. „Da war dieses Kontaktcafé des Vereins Ermekeilinitiative in der Kaserne. Das hatte schon etwas Traumhaftes. Die wunderbare Kulisse und mittendrin diese Menschen, die alle Furchtbares erlebt haben und hier erst mal zur Ruhe kommen dürfen.“

Einmal in der Woche gingen die Kinder in dieser Zeit ins Kinderatelier der Künstler in Haus 4 und konnten ihre Erlebnisse verarbeiten. Sie malten Bilder von Booten und Ertrinkenden. Der erste Kontakt zwischen der Fotografin und der Familie erfolgte mit Händen und Füßen. Jennifer Zumbusch hat viel mit den Flüchtlingskindern gemeinsam fotografiert. „Wir sind uns so schnell nähergekommen. Ich gebe meine Kamera sonst ungern aus der Hand. Aber bei Mohamed hatte ich sofort ein gutes Gefühl. Man merkte, dass er damit umgehen kann.“

Der 31-jährige Mohamed und seine drei Jahre jüngere Frau Hiba können immer besser Deutsch. Die Sprachkurse zeigen ihre Wirkung, Hiba lernt zusätzlich mit einer App auf dem Handy, Vokabeln und ganze Sätze zu sprechen.

Im Sommer wird der kleine Aws in den katholischen Kindergarten zwei Straßen entfernt von ihrer Wohnung gehen. Er kann mit seinen tiefbraunen Augen unglaublich nachdenklich und ernst schauen. Während der Reise in die unbekannte Welt hat er mit den anderen 18 Tage auf den Straßen der türkischen Stadt Izmir übernachtet. Mit drei Monaten begann seine Reise von Mossul nach Europa, Aws hat – Stand heute – die Hälfte seines bisherigen Lebens auf der Flucht verbracht. Sein Vater hatte die letzten 3000 Dollar einem angeblichen Schleuser gegeben, der sich mit dem Geld aus dem Staub machte: „Ali Baba“, nennt er ihn. Sie seien nicht nur einem „Ali Baba“ begegnet auf ihrer Reise. Jedenfalls muss er anschließend in der Türkei für sieben Dollar den Tag Autos schrubben, bis die Familie die Weiterreise finanzieren kann. Ein Jahr hat das gedauert.

Der kleine Aws ist vor Kurzem zwei Jahre alt geworden. Und wenn er auf einem Spaziergang durch Mastholte-Süd etwas zurückfällt, sagt er zur Verblüffung der eigenen Eltern: „Warte! Warte“ auf Deutsch und nicht auf Arabisch. An diesem sonnigen Tag führt der Weg in die kleine Stichstraße Piepers Kamp. Im saftigen Grün des Rasens steht ein Trampolin. Sidra, Yusuf und Aws springen auf dem elastischen Netz. Es sieht unglaublich leicht aus. Wahrscheinlich viel leichter, als es in Wirklichkeit ist.

Die Verabschiedung ist immer schwer, sagt Jennifer Zumbusch. „Ihr geht: Nicht schlafen hier“, sagt Mohamed. „Ich habe es dir geschrieben. Wir müssen zurück. Beim nächsten Mal kann ich wieder übernachten“, antwortet Jennifer. „Das hast du nicht geschrieben.“ Manche Missverständnisse sind gar keine.

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