SPD-Sonderparteitag in Bonn Weg der SPD ist vor dem Parteitag in Bonn ungewiss

Bonn · Im Haus Migrapolis in der Brüdergasse diskutieren sich der Bonner Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber und Juso-Chef Kevin Kühnert mit 70 Gästen schon einmal warm. Ulrich Kelber lobt das Sondierungsergebnis als Voraussetzung für Verhandlungen.

Mancher der etwas Älteren im Saal muss schmunzeln, denn er kennt das Phänomen, das Kevin Kühnert da beschreibt: „Viele meiner Generation haben das Gefühl, es hat niemals etwas anderes gegeben als eine Bundeskanzlerin Angela Merkel“. Zwar hieß der Kanzler früher Helmut Kohl, aber auch er saß so fest im Sattel, dass die SPD 16 lange Jahre auf die Oppositionsbank verbannt war. Doch immerhin hatte sie da noch viele Wähler. An diesem Sonntag geht es auf dem Sonderparteitag in Bonn darum, wie sich die Partei aus dem 20-Prozent-Tief befreien kann, ohne versehentlich in noch tiefere Abgründe zu blicken.

Abermalige Große Koalition – ja oder nein? Auf diese Frage hat sich die innerparteiliche Debatte spätestens mit den Sondierungsgesprächen mit CDU und CSU zugespitzt. Rund 70 Parteimitglieder und interessierte Bürger drängen sich am Freitagabend auf Einladung der Bonner Jusos im Haus Migrapolis an der Brüdergasse, um das zu tun, was das Grundgesetz als „politische Willensbildung“ bezeichnet. Mit dabei sind ein alter und ein neuer Bekannter: Der direkt gewählte Bonner Abgeordnete Ulrich Kelber und der eloquente innerparteiliche Oppositionsführer gegen die anstehende Große Koalition, der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert.

Drinnen werden noch Stühle gerückt, da erklärt Kühnert einigen Journalisten auf der zugigen Bonngasse mit Blick auf den Parteitag, dass er Rennen für „komplett offen“ halte. Die Bemühungen der Parteispitze sprächen dafür, dass auch sie die Abstimmung als ungewiss einschätze. Auf Delegierte werde teilweise über ihre Arbeitgeber Druck ausgeübt, dies sollte sofort abgestellt werden, kritisiert der 28-jährige Berliner. Man habe in den vergangenen Wochen „alles aufgeboten, was ging“, um die eigenen Argumente gegen eine Große Koalition vorzubringen und das 28-seitige Sondierungspapier en detail „auseinanderzunehmen“. Kühnerts Erkenntnis: Eine Absage an das „Weiter so!“ könne auf diese Weise nicht gelingen.

Auffassungen über Weg zum Ziel unterschiedlich

Inwieweit man derzeit von einer „tiefen Spaltung“ der SPD sprechen könne, fragt eine Fernsehreporterin, doch Kühnert wiegelt ab und identifiziert die Lage lieber als „extrem schwierige Situation“. Trotz des Disputs drohe der Partei aber kein Auseinanderbrechen. „Nichts wird besser, wenn Mitglieder austreten“, sagte er. Auch einen Rücktritt der SPD-Führungsspitze halte er im Falle von deren Niederlage nicht für zwingend. Alle treibe das gleiche Ziel an, nämlich das Richtige für die Gesellschaft zu tun und die Partei dabei zu stärken. Unterschiedlich seien die Auffassungen über den Weg zu diesem Ziel. „Wir alle sind doch der Auffassung, dass diese Partei gebraucht wird.“ Und wenn es am Sonntag für seine Seite nicht klappen sollte? „Dann geht es weiter in einem Mitgliederentscheid. Und dann“, so Kühnert, „geht es eigentlich so richtig los“. Auf die Überzeugungsarbeit unter 450.000 SPD-Mitgliedern sei man jedenfalls vorbereitet, sagt er.

Im Saal ist da die frische Luft schon etwas knapp geworden. Mit Applaus begrüßen die Genossen die beiden Anwesenden. Er kämpfe nicht für die Groko, stellt Ulrich Kelber zu Beginn klar. Vielmehr habe er sich das Sondierungspapier angeschaut und sei zu dem Schluss gekommen, dass es die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen hergebe. Als Beispiel für positive Akzente nennt er die Themen Europa, die Entlastung für Gering- und Mittelverdiener und die Hilfe für Langzeitarbeitslose. Mindestens ebenso wichtig wie die Debatte über eine Koalition sei eine Diskussion über die „Existenzkrise der SPD“, so Kelber. Allerdings sei es ebenso ein falscher Schluss zu glauben, der Weg in die Opposition leite automatisch einen Erneuerungsprozess ein. Auch ein Vermittlungsproblem stellt der Bonner fest: Wie eine „Gemeinschaft unabhängiger Sprecherinnen und Sprecher“ agiere die Partei zuweilen, klagt er. Kevin Kühnert kapriziert sich auf etwas anderes: die Unzufriedenheit darüber, dass bei den Sondierungsgesprächen „mehr nicht drin war“. Viele vermeintliche Sondierungserfolge seien in Wirklichkeit „Altschulden“ der CDU, die bereits im Koalitionsvertrag von 2013 gestanden hätten, aber nie umgesetzt worden seien. Die Folge an der SPD-Basis aus Kühnerts Sicht: „ein riesiger Vertrauensverlust zu unserem potentiellen Koalitionspartner“. Erster Zwischenapplaus.

Die gut zweistündige Diskussion beginnt mit einem Freud‘schen Versprecher und etwas Gelächter: Er erlebe in seinem Ortsverein „viele Ältere, die in den Siebziger Jahren in die Partei eingetreten worden sind“ und dort heute die Jüngeren niederstimmten, berichtet ein junger Mann. Zukunftsweisende Themen wie das Klima hätten jedenfalls schlechte Karten, meint er. Und ein anderer, seit 26 Jahren Parteimitglied, stellt nüchtern fest: „Wenn wir streiten, streiten wir gleich über alles. Wir streiten, weil es so schön ist zu streiten“. Ob dies nun ein Menetekel für Kelber, Kühnert und die anderen 598 Delegierten des Bonner Sonderparteitags ist? Am Sonntagabend wird man Näheres wissen.

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