Leben mit Behinderung So schildert Joscha Röder ihre Erfahrungen

Bonn · Die Konditionen für Behinderte sind oft nicht so gut, wie sie sich anhören – beispielsweise bei einer Musikveranstaltung. Das schildert die Bonner Autistin Joscha Röder in einem Erfahrungsbericht.

 „Ich streike für Inklusion“: Joscha Röder setzt sich für flexiblere Entwicklungsmöglichkeiten Behinderter ein.

„Ich streike für Inklusion“: Joscha Röder setzt sich für flexiblere Entwicklungsmöglichkeiten Behinderter ein.

Foto: Privat

Ich liebe die Musik der 90er. Obwohl ich da noch nicht auf der Welt war. Schuld daran sind die Bravo-Hits-CDs. Ich habe alle. Die 90er sind mir die Liebsten. Fragt mich nicht, warum. Meine Eltern sind nicht schuld.

Bemerkenswert bei meiner ersten 90er-Jahre-Party ist zunächst, dass ich nur daran teilnehmen kann, indem ich in der VIP-Lounge sitze, was 199 Euro kostet. Und auch dort nur mit Rollator. Nein, nicht, weil ich einen brauche. Ich kann ja gehen, wenn auch langsamer. Aber warum dann? Eine Sitzgelegenheit erlaubt der Sicherheitsdienst nicht, nicht einmal in der Lounge. Leute, besonders ich, die ich mich schwer tue, Besteck in der Hand zu halten, neigen dazu, Stühle ins Publikum zu werfen, besonders im Vollrausch mit 14. Ich hoffe, ihr lächelt.

In den Instruktionen auf der Homepage konnte man lesen: Nur Mitbringsel erlaubt, die in eine durchsichtige Plastiktüte im Din-A4-Format passen. Das nehmen die Aufseher am Eingang nicht so ernst. Die Leute schleppen Rucksäcke voll Proviant und Decken mit. Darin hätte locker das Equipment für zwei oder drei Selbstmordattentate gepasst. Aber ein Klapphocker für mich, gar mit luxuriöser Rückenlehne – undenkbar! Ein Risiko!

Für Behinderte gibt es, soweit ich das sehen kann, kein Podest zum Schutz. Ein paar Rollstuhlfahrer stehen außen am Rande des Gedränges. Sie gucken nicht fröhlich. Nicht-rollstuhlfahrende Behinderte dürfen auch mit dabei sein, aber eben stehend, acht Stunden lang. Das ist eine unliebsame Form gleichberechtigter Teilhabe. Wir sollen dann lieber doch so sein, wie die anderen, die „Normalen“. Wer das nicht kann, bleibt besser daheim.

199 Euro, oha! Besser – weil ehrlicher – 398 Euro. Meine Begleitung hat auch den vollen Preis bezahlt. Obwohl in meinem Behindertenausweis steht, dass ich das Recht auf eine Begleitung habe – und dass diese freien Eintritt hat. Und dass ich „aG“, also außergewöhnlich gehbehindert bin und „H“ wie Hilfe brauche. Die Merkzeichen auf dem Ausweis waren den Veranstaltern ein Mysterium. Zu Deutsch: eine Zumutung.

So sitze ich also im teuer bezahlten, abgegrenzten Raum, obwohl ich mir das anders vorgestellt hatte. Die Menschen, die aussehen wie ein Ameisenhaufen, glotzen im Vorübergehen rein, zeigen mit Fingern auf uns; ich glotze raus und zurück. Irgendwie sind denen Leute, die sich Vip leisten können (oder müssen), suspekt. Sie können ja nicht wissen, warum ich hier bin und ich es mir nicht ausgesucht habe, meine Ersparnisse zu ruinieren. So ist es ein bisschen wie im Zoo, für alle.

Meine erste Party: Die Stars auf der Bühne sind vor allem eins: ziemlich weit weg. Ziemlich arg weit weg. Sie dröhnen durch die Boxen. Wenn man sich Mühe gibt, kann man sie auf der Bildschirmleinwand erkennen. Ohne meine Profi-Ohrstöpsel, extra gemacht für Konzerte, und abgesichert durchs Stirnband, würde ich wahrscheinlich sozusagen aussteigen aus dem Zwangs-Rollator und nach Hause gehen. Mit Begleitung.

Ich kaufe mir noch ein Tamagotchi als Souvenir. Damit also haben unsere Vorfahren im vorigen Jahrtausend gespielt. Abgesehen davon, dass es ein Fake-Tamagotchi aus China ist, das nicht gescheit funktioniert, muss ich zugeben, dass das Spielen auf dem Tab und dem Nintendo 3DS mehr zur Kreativität anregt. Mir fehlt die Nostalgie. Aber ich kann mir vorstellen, wie es gewesen sein muss, wenn man damals so ein Gerät in der Hand hielt. Technischer Fortschritt pur! Tier füttern per Tastendruck, hätscheln mit einem zweiten Tastendruck. That’s it. Ab damit ins Regal.

Mir hat die Party gut gefallen. Ja, doch. Ja, doch, ich werde eine weitere 90er-Jahre-Party besuchen, im November, von Sunshine-Radio in Mannheim. Der Moderator, der die Party auch erfunden hat, chattet dienstags mit mir, bei der 90er-Jahre-Sendung im Radio.

Es scheint ihn nicht zu stören, dass ich anders bin. Mehr noch, ich spüre Anerkennung: Was ich weiß von der Musik der 90er, scheint ihm zu gefallen. Es wird auf der Veranstaltung mit 11 000 Leuten eine enorme Zahl von Plätzen auch für Behinderte geben. Wenn ich das richtig verstanden habe: bei Bedarf 1100 Plätze.

Ich doziere: Zehn Prozent der Bevölkerung sind behindert. So viel kann ich rechnen: Alle sind willkommen. Ein Schwerbehindertenausweis reicht, wo B draufsteht, und die Begleitung hat freien Eintritt. Das nenne ich Inklusion.

Der Veranstalter hat dem noch eins draufgesetzt: Vielleicht kann ich ein paar Sätze mit DJ Sash wechseln. Von daher werde ich eine Sitzgelegenheit brauchen, alleine schon, um nicht umzufallen. Ich bin aufgeregt. Zurück zu Bonn: Das Wetter stimmte perfekt. Der Himmel ganz in Blau. Aber dass es nicht meine erste und letzte Party war, verdanke ich eher Menschen wie diesem Veranstalter. Ich darf nicht nur geduldet dabei sein, ich gehöre dazu. Auf nach – Mannheim!

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