Interview zum Schulanfang "Eltern trauen ihren Kindern immer weniger zu"

BONN · Sibylle Clement leitet seit 18 Jahren die Jahnschule in Bonn-Auerberg mit 260 Kindern. Vor dem Schulstart spricht sie über die Einschulung, das Verhalten der Eltern und die Zahl der Fachkräfte.

Die Kinder genießen ihre letzten Ferientage. Sie sind aber schon seit Wochen in der Schule im Einsatz. Dabei glauben die meisten Leute, Lehrer hätten auch sechs Wochen Ferien. Was stimmt denn nun?

Sibylle Clement (lacht): Ich antworte darauf immer: Und die Erde ist eine Scheibe. Ich kenne persönlich keine Lehrerkollegen, die die ganzen Ferien über weg sind. Dann würde Schule nicht funktionieren.

Wie haben Sie die Sommerferien verbracht?

Clement: Ich habe drei Wochen Urlaub gemacht. Seitdem bereite ich den Schulbeginn vor. Ich arbeite zum Teil von zu Hause aus, sitze aber auch mehrere Tage in der Woche an meinem Schreibtisch in der Schule. Es müssen jede Menge Emails und Post bearbeitet werden. Außerdem telefoniere ich mit Eltern und Kollegen.

Welche Aufgaben stehen für Sie zurzeit ganz oben?

Clement: Priorität hat die Erstellung des Stundenplans für alle Klassen. Das mache ich gemeinsam mit meiner Konrektorin. Das ist eine sehr aufwendige Arbeit, weil wir ein großes Differenzierungsangebot an unserer Schule haben. Das betrifft zum Beispiel den Islamischen Religionsunterricht und den herkunftssprachlichen Unterricht, der nicht parallel mit den regulären Schulstunden laufen kann. Wir unterrichten die Kinder aus der Türkei, Russland und den arabischen Ländern in ihrer jeweiligen Muttersprache. Dazu kommt der Deutsch-Förderunterricht in Kleingruppen. Das muss alles gut zusammenpassen. Außerdem melden die Kollegen ihre Wünsche an, wann sie welche Stunden unterrichten wollen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt eine große Rolle an der Jahnschule, weil ich viele junge Mütter als Kolleginnen habe. Für Teilzeitkräfte müssen freie Tage eingeplant werden. Unserem Kollegium gehören 17 Lehrerinnen und drei Lehrer an. Ach ja, wichtig ist auch die Raumplanung.

Am Donnerstag empfangen Sie 60 i-Dötzchen. Was erwartet die Kinder und ihre Eltern?

Clement: Die Kinder gehen ganz neue Verbindlichkeiten ein, die sie aus ihrem Kita-Alltag vielleicht noch nicht kennen. Sie müssen jeden Tag pünktlich erscheinen. Sie müssen lernen, auf ihrem Platz sitzen zu bleiben, auch wenn sie müde sind oder keine Lust mehr auf Unterricht haben. Neu für sie ist auch, dass sie Ergebnisse vorlegen müssen. Anders als in der Kita sind ihre Tätigkeiten jetzt zielgerichteter. Aber ich habe den Eindruck, dass auf dem Gebiet in den Kitas eine gute Vorarbeit geleistet wird.

Was hat sich bei den Erstklässern im Laufe der Zeit verändert?

Clement: Deutlich mehr Kinder als früher weisen eine Entwicklungsverzögerung auf – vor allem bei ihrer Sprachentwicklung. Das bestätigen auch Kinderärzte. Das könnte mit dem früheren Einschulungsalter zu tun haben, viele Kinder sind am Tag ihrer Einschulung gerade erst sechs geworden oder werden noch sechs. Manche hätten durchaus noch ein Jahr Kita gebraucht. Dann stelle ich fest, dass die Kinder oftmals reizüberflutet sind, was sicherlich mit der voranschreitenden Digitalisierung zusammenhängt. Wer im jungen Alter viel am Computer oder mit dem Handy spielt, kann sich schlechter konzentrieren. An unserer Schule dürfen Handys der Kinder nicht zu sehen und zu hören sein.

Wie erleben Sie die neuen Eltern?

Clement: Sie sind interessiert und offen, aber sie müssen auch einige Dinge lernen. Sie müssen vor allem lernen, sich von ihrem Kind zu lösen. Wenn am Einschulungstag nach dem Gottesdienst und der Begrüßung die Lehrer mit ihren neuen Schülern in die Klassen gehen, wollen manche Eltern gleich mitgehen. Ich verstehe ja die Neugier, aber sie müssen sich gedulden, sie können nach der ersten Unterrichtsstunde einen Blick in den Klassenraum werfen und gucken, wo ihr Kind sitzt. Einige Eltern haben Probleme mit dem Abnabelungsprozess und würden ihr Kind am liebsten jeden Morgen bis in den Klassenraum begleiten. Deshalb stehe ich zum Unterrichtsbeginn stets an der Schuleingangstür und erkläre ihnen, dass das nicht geht.

Das hört man auch von anderen Grundschulen. Warum verhalten sich Eltern so?

Clement: Ich stelle eine Tendenz fest, dass Eltern ihren Kindern immer weniger zutrauen. Sie haben zum Beispiel die Sorge, dass ihr Kind im Schulbetrieb untergeht und wollen es sicher in seinem Klassenraum an seinem Platz wissen. Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, wenn mal eine Mutter oder ein Vater vorbeischaut. Aber wenn jemand regelmäßig seinem Kind den Ranzen bis in die Klasse trägt, muss ich einschreiten. Konstruktive Elternmitarbeit besteht darin, dass man darauf achtet, dass das Kind stets seine Sachen dabei hat, die Hausaufgaben erledigt sind und der Kontakt mit den Lehrern gepflegt wird.

Gibt es auch lästige Aufgaben als Schulleiterin?

Clement: Oh ja. Überhaupt nicht gerne mache ich die Oktoberstatistik, die alle Schulleitungen für das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik erstellen müssen. Da müssen wir alle möglichen Daten eingeben, wer wie viele Stunden in welcher Klasse und in welchem Fach unterrichtet, wie viele Kinder in den einzelnen Klassen, wie viele Jungen und Mädchen welcher Konfession und welcher ethnischen Herkunft es sind und und und... Da kann man schnell Fehler machen, dann fängt man quasi von vorne an. Und, ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was das Landesamt damit anstellt. Wir hatten zum Beispiel bei der letzten Statistik angegeben, dass wir Islamischen Religionsunterricht erteilen. Kurze Zeit später kam vom Ministerium die Anfrage, ob wir Islamischen Religionsunterricht erteilen. Solche Anfragen kommen immer wieder. Man könnte den Schulleitungen viel Arbeit ersparen, wenn man ein anderes System einführen und nicht wir Schulleitungen diese Statistiken erheben müssten. Zumal diese Daten alle im Schulcomputer abgespeichert und die Rechner mit denen des Ministeriums vernetzt sind.

Was machen Sie im Rahmen der Vorbereitung auf das neue Schuljahr besonders gerne?

Clement: Sie werden lachen, aber ich liebe es, die Stundenpläne aufzustellen, auch wenn das sehr viel Arbeit macht. Das ist wie ein Puzzle oder Sudoku, und am Ende freut man sich, wenn alles passt. Das ist eine echte Herausforderung für mich, das packt mich richtig, es so gut wie möglich zu machen. Meistens ist die Stundentafel in der siebten oder achten Variante fertig und bisher ist die Zufriedenheit bei den Kollegen sehr hoch. Es macht mir auch Spaß, die ersten Schuljahre zusammenzustellen. Man muss viele Wünsche der Kinder und ihrer Eltern berücksichtigen. Da wollen die Kinder mit diesem oder jenem Freund zusammen in eine Klasse, mit einem anderen Kind auf keinen Fall. Dann müssen wir die verschiedenen Ethnien berücksichtigen, dass sie gut gemischt werden, Jungen und Mädchen sowieso. Ich finde es immer ganz spannend, ob es am Ende gelingt, das gut hinzukriegen.

Haben Sie im neuen Schuljahr genügend Lehrkräfte?

Clement: Ja, ich bin zufrieden. Das war nicht immer so und trifft meines Wissens auch nicht auf alle Grundschulen in Bonn zu. Es ist ja schwierig, genügend ausgebildete Grundschullehrer zu finden. Auch bei uns sind nicht alle Kräfte ausgebildete Lehrer. Es hakt noch bei den Sonderpädagogen. Wir kriegen aber in zwei Monaten eine Kollegin dazu. Dann können wir die 42 Stunden, die uns zustehen, komplett besetzen. Allerdings halte ich diese Stundenzahl bei 260 Schülerinnen und Schülern bei weitem nicht für ausreichend.

Wo sehen Sie das größte Problem?

Clement: Wir haben erfreulicherweise viele gut ausgebildete junge Lehrkräfte. Viele davon bekommen Kinder. Das ist total in Ordnung und diese Lehrerinnen kommen später auch wieder, aber dadurch haben wir eine hohe Fluktuation. Das ist nicht nur an meiner Schule ein Problem. Es fehlt an vielen Schulen die mittlere Generation zwischen 45 und 60 Jahren. Jetzt rächt sich, dass diese Jahrgänge nach dem Examen damals kaum eingestellt worden sind. Ein weiteres Problem: Wir haben keine Klimaanlage. In diesem Sommer haben wir schon am frühen Vormittag bis zu 27 Grad in den Klassenräumen gehabt. Wie wollen Sie da noch vernünftig unterrichten? Und Hitzefrei gibt es an Grundschulen nicht, wir können die Kinder ja nicht einfach nach Hause schicken.

Wie sieht es mit den OGS-Plätzen aus? Reichen sie?

Clement: Eigentlich ja. Wir haben nur wenige Absagen erteilen müssen, vielleicht eine Handvoll. Wir haben 110 Plätze. Die Nachfrage ist derzeit nicht so, dass wir eine weitere Gruppe bilden könnten.

Sie haben drei Wünsche als Schulleiterin frei. Was wünschen Sie sich?

Clement: Nur drei? Ich hätte mehr... Also gut: Ich wünsche mir vor allem, dass das Frankenbad als Schwimmbad erhalten bleibt, damit die Schulen im Bonner Norden ein Bad in der Nähe haben, in dem die Kinder schwimmen lernen können. Ich wünsche mir außerdem, dass wir Dienstlaptops bekommen. Wir nutzen alle unsere privaten Geräte, auf denen auch Zeugnisse geschrieben werden. Die Datenschutzverordnung ist aber verschärft worden, das macht die Arbeit sehr schwierig. Man hat uns auf die Computer der Schule verwiesen, aber bei so vielen Leuten sind drei Computer nicht gerade viel. Dann wünsche ich mir, dass der Schulbuchbeitrag in Höhe von 36 Euro pro Jahr vom Land endlich einmal erhöht wird. Er ist seit Jahren nicht mehr angehoben worden.

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