Inklusion in Bonn Bundesamt setzt Behinderten vor die Tür

Bonn · Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat einem schwerbehinderten Mitarbeiter nach vier Wochen im Dienst gekündigt. Der Grund: Er schaffte sein Tagespensum nicht.

„Den Menschen im Blick. Schützen. Integrieren.“ Mit diesen Worten wirbt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf seiner Internetseite. Wohl in der Absicht, den Flüchtlingszustrom möglichst rasch zu bewältigen, setzt sich die Behörde aber offenbar ruppig über Schutzpflichten gegenüber ihren Beschäftigten hinweg. Einen schwerbehinderten Mitarbeiter setzte die Behörde in Bonn ohne jede Hilfestellung nach vier Wochen einfach wieder vor die Tür. Das Bamf ist damit allerdings keine unrühmliche Ausnahme.

Der 19. September 2016 war ein großer Tag im Leben von Hans-Achim Fricke. An diesem Montag trat der Wachtberger mit rund 30 anderen neuen Mitarbeitern seinen Dienst beim Bamf im Entscheidungszentrum West in der Ermekeilkaserne an. Das Fernsehen war da und es gab eine Ansprache. Für den 35-Jährigen war es aus zwei Gründen ein emotionaler Tag: Einerseits hatte Fricke sich seit Beginn der Flüchtlingskrise persönlich intensiv um Neuankömmlinge gekümmert. „Ich habe anderseits auch selbst nach Jahren der Ungewissheit auf den beruflichen Einstieg so gehofft“, sagt er.

Daraus wurde nichts. Schon am 18. Oktober schickte ihm sein Referatsleiter die fristgerechte Kündigung und sofortige Freistellung. Er sei den Belastungen nicht gewachsen und könne nicht selbstständig arbeiten, erfuhr Fricke mündlich, bevor er noch am gleichen Tag den Schreibtisch räumen musste. In der Kündigung stand zu den Gründen nichts.

Hans-Achim Fricke hat es im Leben nicht leicht gehabt. Er war fünf Jahre alt, als Ärzte bei ihm einen bösartigen Hirntumor entdeckten. „Es folgten OP, Chemo und Bestrahlung – das volle Programm“, sagt seine Mutter Susanne Dittmann, selbst Ärztin im Ruhestand. Ihr Sohn überlebte. Aber die Therapie hatte Folgen. „Er konnte nicht mehr sprechen und laufen. Die Wirbelsäule wurde geschädigt. Er wuchs nicht richtig und musste alles neu lernen“.

Dass Fricke überhaupt die Waldschule besuchen konnte, verdankte er nur seinen verständnisvollen Lehrern. Später machte er an einer Schule für Körperbehinderte in Köln den Realschulabschluss und anschließend in Bonn eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Nicht mit Bestnoten, aber mit Abschluss. Den Betrieb gibt es heute nicht mehr.

Im Wohnzimmer der Dittmanns macht Hans-Achim Fricke einen ganz normalen Eindruck. Er habe leichte Gleichgewichtsstörungen, erzählt er, und eine unruhige linke Hand. Motorisch ist er nicht so schnell wie andere. Das Kopfhaar wächst nach der Bestrahlung nur ungleichmäßig. Doch den Computer bedient er mit links. Er hat eine eigene Wohnung und will gar nicht glauben, dass ihm 60 Prozent Schwerbehinderung zustehen.

Arbeitgeber sehen das anders. Mehrere Hundert Bewerbungen hat Fricke geschrieben. Meist bekommt er gleich eine Absage. So auch bei den Stadtwerken Bonn (SWB), wo sich der Bürokaufmann vor kurzem als Kundenbetreuer beworben hatte.

Das städtische Unternehmen lud ihn nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein. Andere Bewerber hätten mehr Erfahrung im Kundenverkehr und bessere Fremdsprachenkenntnisse gehabt, bedauert SWB-Pressesprecher Werner Schui. Bei den SWB sind Schwerbehinderte keine Ausnahmen. Die Quote unter den Mitarbeitern liegt Schui zufolge bei 8,7 Prozent.

Das Bamf stellte Fricke nach seiner Online-Bewerbung ein. „Freitags mussten wir den Vertrag unterschreiben. Am nächsten Montag sollten wir anfangen“, erinnert er sich. Man habe „nach Aktenlage“ eingestellt, bestätigt Kira Gehrmann aus der Bamf-Pressestelle in Nürnberg auf GA-Anfrage. Telefonisch habe man die Bedürfnisse der Schwerbehinderten an ihrem Arbeitsplatz abgefragt.

Die Einarbeitung war kurz. Fricke sollte Bescheide zusammentragen, auf Vollständigkeit prüfen und verschicken. Das Pensum von 20 Bescheiden am Tag schaffte er nicht. Dass er als Behinderter das nicht schaffen konnte, interessierte niemanden.

In Bonn hat das Bamf keine Schwerbehindertenvertretung, sagt Gehrmann. In der Nürnberger Zentrale habe weder der Personalrat noch die Schwerbehindertenvertretung der Kündigung widersprochen, „da keine behinderungsbedingten Kündigungsgründe ersichtlich“ gewesen seien.

In einem Report der Bundesagentur für Arbeit aus dem Oktober 2016 heißt es: „Arbeitslose mit Schwerbehinderung sind gut qualifiziert: Anteilig finden sich bei schwerbehinderten Arbeitslosen etwas mehr Fachkräfte als bei nicht-schwerbehinderten Arbeitslosen.“

Schwerbehinderten Arbeitslosen gelinge es trotzdem seltener, eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt aufzunehmen. Nur 16 Prozent der Schwerbehinderten fänden Anstellung im ersten Arbeitsmarkt, erklärte die Agentur für Arbeit auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion. Die Mehrzahl werde als berufsunfähig aus der Statistik gestrichen.

Besonders bitter ist das für einen jungen Mann, der sich fast täglich für das Gemeinwohl einbringt und damit seine Einsatzfähigkeit unter Beweis stellt. „Herr Fricke ist einer der 80 sehr engagierten Helfer, die die Bewohner der Flüchtlingsunterkunft Poliklinik unterstützen“, sagt Lena von Seggern, Koordinatorin der Flüchtlingsarbeit beim Diakonischen Werk Bonn und Region.

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