Bonner Soziologin im Gespräch „Die Integration von Zuwanderern wird Generationen dauern“

Die Flüchtlingskrise von 2015/16 wird auch eine Stadt wie Bonn nachhaltig verändern, ist Doris Mathilde Lucke überzeugt. Die Soziologin sieht schwere Versäumnisse bei der Politik, das Merkel-Versprechen hält sie für unglaubwürdig. Mit ihr sprach Martin Wein.

Deutschland und auch Bonn haben in der Vergangenheit immer wieder Zuwanderungswellen erlebt – etwa nach dem Zweiten Weltkrieg oder in den 1970er Jahren mit den Gastarbeitern. Ist die Flüchtlingswelle von 2015/16 eigentlich so etwas Besonderes – und was zeichnet sie aus?

War es in der Vergangenheit einfacher, weil die Zugewanderten uns gesellschaftlich-kulturell näherstanden oder wird diese Facette überbewertet?

Lucke: Ich erinnere mich noch an Hauptstadtzeiten. Da war Bonn eine weltoffene Stadt voller Diplomaten. Damals spielten Hautfarbe oder Bekleidung keine Rolle. Das hat sich radikal geändert. Heute fangen auch hier Menschen an zu überlegen, ob sie zum Beispiel bestimmte Unterführungen noch benutzen, weil sie sich von denjenigen, die sich dort aufhalten, latent bedroht fühlen. Akzeptanz hat immer auch etwas mit Ähnlichkeit zu tun. Der Begriff Assimilation enthält das lateinische similis, ähnlich. Diese entsteht einerseits räumlich – Franzosen etwa sind uns auch in dem Sinne näher als Afghanen – oder aber durch vergleichbare Lebensmilieus. An Universitäten oder auch in großen Unternehmen ist es nachgerade chic, Mitarbeiter mit fremdländisch klingenden Namen zu beschäftigen. Das symbolisiert Weltläufigkeit. Aber es sind 2015/16 eben nicht nur Akademiker und Geschäftsleute zu uns gekommen.

Man hat lange so getan, als würden die Zuwanderer mit einem Sprachkurs und einem Arbeitsplatz in die deutsche Gesellschaft integriert. Ist das nicht eine extreme Verkürzung von Integration?

Lucke: Meines Erachtens sind das typisch deutsche Vorstellungen, wie sich gesellschaftliche Probleme politisch managen lassen. Etwas mehr soziologischer Sachverstand wäre da durchaus angebracht. Nehmen Sie allein schon das Vokabular. Flüchtlings“strom“ oder auch -„welle“ klingt nach einer Naturkatastrophe. Der „Flüchtling“ liegt als Verkleinerungsform begrifflich verräterisch nah beim „Sträfling“ oder auch „Schädling“. Die Politik hat das ja durchaus absehbare Problem einfach lange ignoriert. Akzeptanz scheitert oft an ganz grundlegenden Selbstverständlichkeiten, wie etwa dem Einhalten und Respektieren einer bestimmten körperlichen Distanz. In anderen Kulturräumen kommt man sich durchaus so nahe, dass wir das unsererseits bereits als unangenehm empfinden und als Bedrohung wahrnehmen. Solche interkulturellen Missverständnisse kann man nicht in einem Kursus ausräumen.

Wie verändert sich eine Stadt durch Zuwanderer aus wenigen Herkunftsländern in Größenordnungen von einigen Tausend Menschen? Könnte sich das etwa in der Sprache, im Verhalten oder im Wertekanon niederschlagen?

Lucke: Eine Stadt wie Bonn oder ein Land wie Deutschland sind offene Systeme. Wenn ich etwas ergänze und von außen hinzufüge, verändern sie sich zwangsläufig. Insofern ist der Satz von Kanzlerin Merkel, Deutschland werde Deutschland bleiben, aus soziologischer Sicht unglaubwürdig. Selbstverständlich werden die Geflüchteten unsere Sprache, unsere Vorlieben und unser Verhalten beeinflussen. Ich sehe darin bei allen Schwierigkeiten und aufeinanderprallenden Kulturen aber auch positive Aspekte. Schließlich können wir unser eigenes Verhalten nur reflektieren, wenn wir im direkten Umgang erleben, wie andere sich verhalten und wie Leben auch anders als das unseren gesellschaftlich geprägten Vorstellungen entspricht gelebt werden können.

Welchen Zeithorizont würden Sie für die Integration der Flüchtlinge von 2015/16 ansetzen?

Lucke: Das ist – die Erfahrung lehrt dies – in jedem Fall eine Frage von mehreren Generationen.

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