Vor 20 Jahren So haben Mitarbeiter aus Bonn den Regierungsumzug erlebt

Bonn · Im Sommer 1999 stehen in Bonn die ersten Umzugswagen vor dem gerade erst fertiggestellten neuen Deutschen Bundestag und verschiedenen Ministerien – und Tausende Mitarbeiter sitzen für die Reise nach Berlin auf gepackten Koffern.

Der Umzugsbeschluss 1991 hat das Leben Tausender Familien umgekrempelt – nicht nur in Bonn. Als 1999 der erste große Umzugstross von Bonn nach Berlin rollt, sind Heinz-Josef Friehe und Pia Dahmen dabei. Siegfried Tuschke, der nach der Wende aus der DDR an den Rhein gezogen ist, bleibt. Drei Lebenswege:

Der Behördenchef:

Als Heinz-Josef Friehe nach Jurastudium und Referendariat mit seiner Frau aus beruflichen Gründen nach Bonn wechselt, ahnt er nicht, dass er einmal zum Pendler zwischen zwei Welten werden würde. „Wir wollten eine Familie gründen, hatten einen Bausparvertrag abgeschlossen und wollten in Beuel-Süd ein Haus bauen“, erinnert sich der Präsident des Bundesamts für Justiz. Damals wohnt er mit seiner Frau Sabine in Beuel an der Ernst-Moritz-Arndt-Straße.

Friehe startet seine berufliche Laufbahn 1987 als Referent im Bundesministerium der Justiz in Bonn. Seine Frau, ebenfalls Juristin, macht zunächst ihren Doktor. Später findet sie einen Job in der Bundestagsverwaltung. Weil Beuel-Süd als mögliche Dauerheimat dem jungen Paar zu teuer erscheint – „damals sollte eine Doppelhaushälfte dort 750 000 Mark kosten“ –, strecken die beiden ihre Fühler über die Stadtgrenze aus. „Bornheim oder Königswinter wäre auch infrage gekommen.“

Doch es kommt anders: Als die Mauer fällt, hält Friehe sich dienstlich gerade in Rom auf. „Nein“, sagt er, „damals habe ich noch nicht daran gedacht, dass der Mauerfall unsere Zukunftspläne umkrempeln könnte.“ Das soll sich schnell ändern: Im Zuge der Debatte um Bonn oder Berlin als Regierungssitz wird ihm bewusst, dass diese Entscheidung auch sein Leben betrifft. „Wir fühlten uns wohl in Bonn, standen aber einem Umzug nach Berlin neutral gegenüber.“

Als der Bundestag 1991 den Umzugsbeschluss fasst, ist Friehe bedrückt. „Unser Sohn Matthias war gerade ein Jahr alt, unsere Wohnung war mit 70 Quadratmetern für eine Familie zu klein geworden. Wir wussten aber, dass wir nun nicht mehr in Bonn oder in der Region bauen konnten.“ Friehe ist zwischenzeitlich ins Bundeskanzleramt gewechselt. Es soll noch bis August 1999 dauern, bis er seine Koffer packt. In der Zeit besucht Söhnchen Matthias die Pius-Kita von Sankt Josef in Beuel, wo die Familie mit dem Karnevalsvirus infiziert wird. „Meine Frau hat für uns die Kostüme genäht, und ich habe mit den anderen Vätern den Wagen der Kinderwäscherprinzessin gezogen“, erinnert sich Friehe .

Die Würfel fallen, als 1995 der Bausparvertrag der Familie fällig wird. „Da war klar: Wir mussten uns entscheiden, wo wir in Zukunft wohnen wollten.“ Die Wahl fällt auf Panketal nordöstlich von Berlin. Bevor es mit dem Regierungstross in die Hauptstadt geht, radelt Friehe noch mal kreuz und quer durch Bonn, um möglichst viele Eindrücke aus der alten Kapitale per Foto mit an die Spree nehmen zu können. Allein beim Rosenmontagszug in Köln, wo er zuvor noch nie gewesen war, verknipst er drei 36er Filme.

Es dauert eine Weile, bis die Familie in Panketal heimisch wird. 2001 kommt der zweite Sohn, Johannes, zur Welt. Das Paar engagiert sich inzwischen in der Kommunalpolitik. „Es war eine regelrechte Aufbruchstimmung in Panketal“, erinnert sich Friehe, der seit seinem 18. Lebensjahr CDU-Mitglied ist. Dass er jemals nach Bonn zurückkehren würde, das hat er damals nicht im Sinn.

2011 ist Friehe als Präsident für das Bundesamt für Justiz im Gespräch. Und das hat seinen Sitz in Bonn. Ausgerechnet. Friehe nimmt das Amt an. 2012 wohnt er wieder in Beuel. Ganz in der Nähe der alten Wohnung. Der Wohnsitz der Familie bleibt aber nach wie vor in Panketal. Und damit lebt Friehe wieder als Pendler zwischen den Welten. Noch geht der jüngere Sohn in Berlin zur Schule. Der ältere Sohn Matthias hat in Marburg studiert und promoviert und will mit Frau und Kind seine Zelte in Bonn aufschlagen. Ob Friehe und seine Frau den Schritt wagen und ebenfalls wieder ins Rheinland zurückkehren, lässt der 64-jährige gebürtige Westfale offen. „Ehrlich gesagt, je älter ich werde, desto mehr schätze ich Bonn.“

Der Ostdeutsche:

Siegfried Tuschkes größter Wunsch ist der Erhalt des Friedens. Der frühere Mitarbeiter des Bundesbildungsministeriums hat als kleiner Junge den Zweiten Weltkrieg hautnah miterlebt. Damals lebt er mit seiner Familie in Forst in der Lausitz. Als die Russen anrücken, flüchtet er mit seiner Mutter nach Naumburg an der Saale. Gelernt hat Tuschke Maschinenschlosser; dann hat er in Dresden Berufspädagogik studiert. Der Job als Berufsschullehrer macht ihm großen Spaß, Tuschke hat ein Händchen für die jungen Leute. Das damalige Deutsche Institut für Berufsbildung in Berlin – später wird es zum Zentralinstitut für Berufsbildung der DDR – wird auf ihn aufmerksam. Tuschke zieht mit seiner Frau an die Spree, wo er neben der Arbeit promoviert. 25 Jahre lang ist Berlin die Heimat der beiden; ein Sohn und eine Tochter komplettieren die Familie. „Noch einmal woanders eine neue Existenz aufbauen? Nein, daran habe ich nicht gedacht“, erinnert er sich. Er ist 56, als nach der Wende sein Institut im Zuge der deutschen Einheit „abgewickelt“ wird, wie man es damals nennt. Einige Mitarbeiter werden vom Bundesinstitut für Berufsbildung übernommen. Tuschke gehört nicht dazu. Er erhält ein Angebot von der IG Metall. Doch dann erfährt er, dass das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Bonn gute Leute aus den neuen Bundesländern sucht. Tuschke bewirbt sich und wird zum Auswahlverfahren eingeladen. Zum ersten Mal in seinem Leben reist er ins Rheinland. „Das war ein hartes Verfahren. Ich hätte nie geglaubt, dass ich angenommen werde“, erinnert er sich. Als er wieder nach Hause fährt, denkt er: „Das waren ein paar nette Tage in Bonn.“ Es dauert nicht lange, und das Büro des damaligen Staatssekretärs des Ministeriums, Fritz Schaumann, meldet sich. Tuschke bekommt den Job. „Knall auf Fall war ich zurück in Bonn.“

Ostern 1991, wenige Wochen, bevor der Bundestag den Umzugsbeschluss fasst, kommt Tuschke in der alten Hauptstadt an und geht auf Wohnungssuche. Über Umwege findet er eine Bundeswohnung in Beuel. „Ich hatte zunächst einen befristeten Vertrag. Ich wurde wie alle aus der ehemaligen DDR erst einmal von der Gauck-Behörde auf eine mögliche Stasi-Vergangenheit überprüft.“ Das Ergebnis war negativ. „Ich habe denen von der Stasi immer gesagt, Konspiratives ist nichts für mich.“ Die Folge: Seine Aufstiegschancen waren damit begrenzt.

In Bonn lebt er sich schnell ein. Sein Hauptaufgabengebiet wird die berufliche Weiterbildung für die Anforderungen des Arbeitsmarktes. „Das waren spannende und herausfordernde Aufgaben.“ Tuschke gehört nun zu den Bonn-Berlin-Pendlern, denn seine Frau Heidi bleibt in ihrer alten Wohnung in Berlin wohnen. Sie leidet unter der Trennung und zieht im Sommer 1992 nach Bonn. Lediglich die Datsche in Wünsdorf südlich von Berlin behält das Paar. Das kleine Ferienhäuschen ist im Sommer immer noch für einige Monate das Zuhause der Tuschkes.

Ironie des Schicksals: Im Herbst 1992 geht sein Referatsleiter mit einem Teil der Kollegen nach Berlin. Tuschke soll mit. Er winkt ab. Seine Frau will nicht schon wieder umziehen, zudem fühlt er sich mittlerweile in Bonn sehr wohl. „Wir hatten viele nette Kontakte geknüpft. Im Rheinland gefällt uns die leichte und offene Art der Menschen“, sagt Tuschke. Und: „Eigentlich bin ich erst hier ans Radfahren gekommen. In Berlin war mir das immer zu gefährlich.“ 1999 geht er in den Ruhestand. Viele Kollegen ziehen nach Berlin. Tuschkes bleiben. „Vielleicht wären wir ihnen über kurz oder lang gefolgt. Aber als ich unsere Wohnung in Beuel kaufen konnte, war klar: Wir ziehen nicht um.“ Eines steht für Tuschke fest: Seine letzte Ruhestätte findet er in Berlin.

Die Büroleiterin:

Pia Dahmen stammt aus Wesel. Heimat ist für sie aber Bonn. „Solange ich am Rhein lebe, bin ich zu Hause.“ 1984 beginnt sie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität ihr Politikstudium, ein Jahr später tritt sie in die SPD ein. Sie knüpft viele Freundschaften und engagiert sich im Vorstand der Bonner SPD. Damals ist Uli Kelber der Sprecher des Unterbezirks Bonn. Beide werden enge Freunde. Neben dem Studium arbeitet Dahmen im Büro der SPD-Bundestagsabgeordneten Anke Martiny. Deren Nachfolgerin Susanne Kastner stellt Dahmen fest an. Mit dem Regierungsumzug geht sie wie so viele andere Bonner nach Berlin. „Eigentlich muss ich sagen, mein Job ist nach Berlin gegangen, also musste ich mit“, sagt Dahmen und schmunzelt. Als Kelber 2000 in den Bundestag nachrückt, zögert die damals 36-Jährige keine Sekunde: Pia Dahmen übernimmt die Leitung von Kelbers Büro. „Das war ein Glücksfall“, sagt sie.

Sie wohnt in Moabit, kann wie in Bonn mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren – „immer an der Spree entlang, das hatte so ein Rheinfeeling für mich“ – und genießt das pulsierende Leben der Metropole. Die ganze Stadt ist in Aufbruchstimmung. Und sie ist mittendrin. „Die ersten Jahre waren ziemlich aufregend.“ Einsam fühlt sie sich nie. „Der halbe Freundes- und Bekanntenkreis ist ja mit nach Berlin gezogen.“ Dahmen lernt auch das Umland Berlins kennen und die Seen in Brandenburg schätzen. „Das ist schon eine reizvolle Landschaft.“

Eine eigene Familie hat Dahmen nicht, aber dank fünf Geschwistern ist sie mit Nichten und Neffen reich gesegnet. „Die leben alle in Westdeutschland. Ich habe sie nachher nur noch höchstens ein-, zweimal im Jahr gesehen.“ Anfangs denkt sie darüber gar nicht viel nach, im Büro gibt es reichlich Arbeit. Erst recht, als die SPD Regierungspartei wird. Kelber wird stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion und 2013 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz. Pia Dahmen hat alle Hände voll zu tun. „Witzig, meine erste Abgeordnete, Frau Martiny, war auch Verbraucherschutzexpertin“, sagt sie.

Es ist die Zeit, als sie dann doch so etwas wie Heimweh verspürt, erinnert sie sich. Beruflich sitzt Pia Dahmen fest im Sattel. Parteipolitisch ist sie auch wieder aktiv, mischt in Moabit im SPD-Vorstand mit. Aber Berlin hat sich verändert. Die Stadt ist lauter, noch hektischer und vor allem schmutziger geworden, findet sie. Viele Einheimische – der Berliner gilt gemeinhin ohnehin nicht gerade als freundlicher Zeitgenosse – kommen ihr noch unfreundlicher vor. „Ich merkte, Berlin ging mir zunehmend auf den Keks.“ Dahmen spielt mit dem Gedanken, ins Rheinland zurückzukehren. Vor zwei Jahren bewirbt sie sich auf eine Stelle in Düsseldorf. Ohne Erfolg. Jetzt ist sie zurück in Bonn. Sie ist ihrem Chef an den Rhein gefolgt. Kelber ist seit Jahresanfang Bundesdatenschutzbeauftragter in Bonn, Dahmen seine persönliche Referentin. „Ich habe es nicht bereut, nach Berlin gezogen zu sein. Aber hier fühle ich mich sofort wieder zu Hause.“

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