Menschen in der City: Wie im großen Wimmelbuch

Für viele ist die Bonner Innenstadt nur Durchgang auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkauf, andere verbringen dort täglich viele Stunden

Menschen in der City: Wie im großen Wimmelbuch
Foto: Barbara Frommann

Bonn. Zu den Klassikern in Kinderzimmern gehören die großen Wimmelbücher von Ali Mitgutsch. Darin finden sich witzige Panoramabilder, auf denen Menschen, Tiere und Gegenstände in alltägliche Ereignisse verwickelt werden. Fertigte man von der Bonner Innenstadt so ein Luftbild voller Details an, sähe das wohl ähnlich aus.

Einerseits ist die City ein Durchgangsraum für Flaneure und Einkaufende, für zur Arbeit oder zum Bahnhof Eilende. Andererseits gibt es hier aber auch Menschen, die Tag für Tag in der Innenstadt anzutreffen sind und einen festen Platz im großen Bonner Wimmelbuch verdient hätten. Der General-Anzeiger ist einigen von ihnen begegnet.

Der Blumenverkäufer: Kaum ein Kind kommt an Dionysios Jakovidis auf dem Bonner Markt vorbei, ohne einen Lutscher geschenkt zu bekommen. Der 45-jährige Blumenverkäufer sagt: „Als ich klein war, habe ich beim Einkaufen auch immer Bonbons oder Wurst geschenkt bekommen. Wenn man älter wird, gibt man das eben zurück. Das nennt man Menschlichkeit.“

Der Bonner möchte die kleinen süßen Gaben nicht als indirekte Werbung missverstanden wissen: „Das ist keine Reklame, sondern eine Form des Miteinanders.“ Von 100 Lollis gingen 80 an Kinder wildfremder Menschen, nur 20 an Kunden. „So gehört sich das.“

Der Crepes-König: Armin Al-Salih (41) verkauft Crepes in der City – jeden Tag außer sonntags, von 11 bis 20 Uhr, immer am selben Standort zwischen Kaufhof und Sinn-Leffers. Der gebürtige Bayer macht seit 20 Jahren Crepes. In jüngster Zeit reduziere sich die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer leider meist auf den Geschäftsakt.

„Häufig gibt es hier kein ,Guten Tag’ mehr, sondern nur ,Zimt-Zucker’ – das war dann die ganze Unterhaltung.“ Ein bisschen mehr Zwischenmenschlichkeit wünscht er sich – und mehr Verständnis für die vergleichsweise gar nicht so hohen Crepes-Preise.

Der Datensammler: Arno Bens (31) vom Statistischen Bundesamt versucht am Mittwochnachmittag in der Poststraße Bürger für eine Umfrage zum Thema „Bürokratieabbau“ zu rekrutieren. Das Amt möchte wissen: Wieviel Zeit verbringt der Bürger im Jahr mit Papierkram und bürokratischen Pflichten, die ihm vom Gesetzgeber auferlegt sind? Die Bürger sollen schildern, welche Arbeitsschritte sie bei ihrem letzten Kontakt mit einer Behörde ausführen mussten, wie lange das gedauert hat und welche Verbesserungsvorschläge sie haben.

Bürokratieabbau ist grundsätzlich eine gute Sache, trotzdem haben Bens und seine beiden Kollegen Probleme, mit Bürgern ins Gespräch zu kommen. Kaum verwunderlich, sagt Bens: „Hier will jemand ein Handy verkaufen, da eine Unterschrift haben.“ Andere bitten um Spenden für Tiere oder wollen die Passanten zu einem anderen Glauben bekehren. Bens kann verstehen, dass viele zunächst skeptisch sind. Aber er gibt nicht auf.

Die Bonbonverkäuferin: Irene Moteka verkauft an drei Tagen in der Woche bayerische Kräuterbonbons. Von Anfang Oktober bis Ende März steht der Wagen an der Ecke Postraße/Windeckstraße, sagt die 61-Jährige. Die Bonnerin hat eine Reihe von Stammkunden, die sich bei ihr gegen die Folgen der Erkältungszeit wappnen. Aber auch Glühweinbonbons seien sehr gefragt. Sie selbst schwört auf Salbei.

Die Schmuckhändlerin: Wenige Meter daneben bietet Elena Mavromatidou ihren Schmuck feil. Die 41-jährige Kölnerin sagt: „Ich bin sehr zufrieden mit den Bonnern. Die haben ein absolut hohes Niveau.“ Zu den Kölnern bestehe ein wesentlicher Unterschied: „Bonner versuchen nie zu handeln.“ Sie lobt auch die Mitarbeiter von Polizei und Ordnungsamt: „Die machen ihre Arbeit sehr gut, fast jede halbe Stunde kommen die hier vorbei.“

Der Türöffner: Es regnet in Strömen am Donnerstagnachmittag, doch Marko Bos steht tapfer vor dem Eingang des Bonner Münsters und öffnet den Besuchern die schwere Tür. „Früher habe ich geklaut“, gesteht der 39-Jährige. Doch diese Zeit sei vorbei. Jetzt versucht er sich durch den Verkauf der Obdachlosen-Zeitung „Fifty Fifty“ und durch den Türöffner-Service etwas Geld zu verdienen. Gerade Mütter mit Kindern und Senioren wüssten diesen Dienst zu schätzen.

Es gebe aber auch andere: „Eine Frau sagt immer: Da ist das miese Pack schon wieder.“ Dabei zwinge er ja keinem, ihm eine Spende zu geben. Besonders freue sich Bos über Menschen, die mit ihm reden, ihm Ratschläge geben, ihn mit Kleidung versorgen oder ihn zu einer Mahlzeit einladen. Zurzeit ist der gebürtige Klever mit einem Freund auf Wohnungssuche. „Viele geben sich ja auf“, sagt er. „Ich war schon immer eine Kämpfernatur.“

Die Souvenir-Verkäuferin: Rosemarie Wilke (70) gibt ebenfalls noch nicht auf. Seit 1965 verkauft sie auf dem Münsterplatz Andenken aller Art, doch nach dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin seien die Zeiten deutlich schlechter geworden. „Wir haben ja kaum fremde Leute mehr hier“, sagt die Westerwälderin aus Neustadt-Wied. Trotzdem: „Ich gehe gerne hier hin“, sagt sie. „Oft kommen auch Menschen, die ich näher kenne.“ Und dann nimmt sie sich gerne Zeit für ein Gespräch und hört sich die neusten „Wehwehchen“ an. „Die Leute brauchen das.“

Die Ordnungshüter: Mit einem roten Fahrrad kommt Till Spree am Donnerstagnachmittag zurück in die City-Wache in der Maximilianpassage. Der Polizeioberkommissar hat das nicht abgeschlossene Rad eben an der Marktbrücke eingesammelt, damit es kein anderer klaut. „Wenn ich Bundeskanzler wäre, würde ich die Kennzeichnungspflicht für Fahrräder einführen, damit man genau wüsste, wer auf welchen Sattel gehört“, sagt er.

Der 45-Jährige hat ein besonderes Auge für Fahrräder und arbeitet gerne in der Fußgängerzone als City-Streife mit den Kollegen vom Ordnungsamt. Dabei geht es nicht immer um Kriminalität, sondern häufig einfach nur um Auskünfte und Hilfestellungen, sagt Spree. Das bestätigt seine Kollegin Katrin von Elstermann. Die 24-jährige Stadtobersekretärin erinnert sich an eine Frau, deren elektrischer Rollstuhl am Anfang des Jahres in der Bonngasse verrückt spielte.

Das Gerät drehte sich unaufhörlich im Kreis. Die Helfer gaben dem Rollstuhl dann einige richtungsweisende Stöße: „Wir haben die Frau nach Hause begleitet, bis nach Königswinter vor die Haustür.“

Inzwischen ist die Besitzerin des Fahrrades in der City-Wache aufgetaucht, 33 Minuten nach dem vermeintlichen Diebstahl. „Sie haben mir einen ganz schönen Schreck eingejagt“, sagt die Dame. „Ich hoffe, einen heilsamen“, entgegnet Till Spree und ölt eben noch das schwer gängige Fahrradschloss, damit der Frau das Abschließen beim nächsten Mal leichter fällt.

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