Der Schutz des Kindes ist oberstes Ziel

Bonn · Immer wieder lassen Fälle sexuellen Missbrauchs aufhorchen: Die meisten Taten passieren in der familiären Betreuungssituation. Welche Hilfen können Anlaufstellen wie das Kinderneurologische Zentrum der Bonner Kliniken des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) bieten? Helmut Hollmann, Chefarzt des Kinderneurologischen Zentrums, spricht im Interview über Hilfen nach sexuellem Missbrauch.

Ein Teil ihrer bis 18-jährigen Patienten sind von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche. Bei welchen Anzeichen werden Sie hellhörig?
Helmut Hollmann: Eindeutige Zeichen gibt es nicht, sofern keine entsprechenden körperlichen Verletzungen vorliegen. Sexualisiertes Verhalten kann ein Hinweis sein, ebenso, wenn bei bis dahin unauffälligen Kindern plötzlich andere Veränderungen im Verhalten auftreten. Dies kann von Wutausbrüchen ohne eindeutigen Anlass über wieder auftretendes Einnässen bis zu depressiv wirkendem Rückzug reichen. In jedem Fall muss nach den auslösenden Ursachen gefahndet werden.

Wie gehen Sie damit um, wenn sich der Anfangsverdacht bestätigt?
Hollmann: Der Schutz des Kindes ist oberstes Ziel. Es hängt aber vom Einzelfall ab, wie wir vorgehen. Da Kinder auf ihre Eltern und deren Anwesenheit angewiesen sind, müssen die familiären Betreuungsverhältnisse sehr gut geklärt werden, da wir wissen, dass sich die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch im Familienkreis ereignen. Hierzu ist die enge Kooperation mit den Jugendämtern erforderlich, ebenso die erprobte Netzwerk-Arbeit mit Beratungsstellen, aber auch der Polizei bis hin zu den Gerichten.

Welche Hilfen, welche Therapien können Sie Opfern bieten?
Hollmann: Interdisziplinär behandeln Ärzte, Psychologen, Therapeuten mit Erfahrung in der Traumatherapie und Pädagogen. Im stationären Bereich kommen geschulte Pflegekräfte hinzu. Gerade bei diesen kostenintensiven Zusatz-Qualifikationen erfahren wir unverzichtbare Unterstützung durch unseren Förderverein, die Bonner Fördergesellschaft für Kindesentwicklung.

Welche Rolle spielen die Eltern oder Bezugspersonen in der Therapie?
Hollmann: Sie werden wo immer möglich einbezogen. Wenn Eltern selbst Täter waren, muss geklärt werden, ob es möglich ist, dass sie sich wieder annähern oder ob eine dauerhafte Trennung einzuleiten ist. Anzustreben ist in jedem Fall, dass die primären Bezugspersonen des Kindes, in der Regel die Mütter, unterstützt werden, falls sie nicht selbst in das Geschehen verstrickt waren. Ziel der Therapie ist es dabei, dass die Erwachsenen dem Kind fortan Schutz und emotionalen Halt geben können. In anderen Fällen benötigen die Eltern oft selbst therapeutische Hilfe.

Und wann wird das Jugendamt eingeschaltet?
Hollmann: Immer dann, wenn eine Familienhelferin die familiäre Situation stabilisieren muss oder wenn entschieden werden muss, dass das Kind aus der Familie herausgenommen werden sollte. Die Systeme Medizin und Jugendhilfe müssen stets eng zusammenarbeiten, da sie sich ergänzen.

Geben Sie ein Beispiel, wo Sie grundlegend helfen konnten?
Hollmann: Ein achtjähriges Mädchen wurde von den Eltern ambulant vorgestellt, weil in der Schule ein massiv sexualisiertes Verhalten aufgetreten war. In der psychologischen und kindertherapeutischen Diagnostik ergaben sich weitere Hinweise auf einen möglichen sexuellen Missbrauch. Der ärztliche Befund war unauffällig. Im gemeinsamen Gespräch mit den Eltern wurde unser Verdacht aufgedeckt. Die Eltern waren empört und betroffen zugleich. Sie wiesen diesen Verdacht weit von sich, verblieben aber in Kooperation mit uns.

Andernfalls hätten wir das Jugendamt eingeschaltet. Das Mädchen wurde in die Psychotherapie aufgenommen, die Eltern waren einbezogen. Kurze Zeit später informierten uns die Eltern darüber, dass wir Recht hatten. Ebenfalls im Haus lebte der psychisch kranke Großvater, den die Enkelin oft besuchte. Der alte Mann schaute sich offenbar gerne Porno-Filme an, die das Kind dann miterlebt hat. Die Eltern haben das Mädchen dann nicht mehr unbegleitet zu ihm gelassen. Entsprechend unseren Empfehlungen wurde es auch kindgerecht aufgeklärt. Wenige Wochen später war die Symptomatik vollständig verschwunden.

Können Sie Tipps geben, wie Eltern ihre Kinder am besten vor Missbrauch schützen?
Hollmann: Liebe und Sexualität sind wunderschöne Dinge. Sie verlangen Zuneigung, Vertrauen und gegenseitigen Respekt. Das bedeutet insbesondere, dass Körperkontakt freiwillig ist. Eltern sollten dies ihren Kindern vorleben. Ebenso sollten Eltern ihre Kinder ermutigen, bei allem Nein zu sagen, was den Kindern an Kontaktaufnahme zu nahe ist.

...und wo liegt der Fehler?
Hollmann: Es ist falsch, Kinder in ständiger Angst vor dem "Bösen Mann" zu erziehen. Genauso falsch ist aber, so zu tun, als ob es sexuelle Übergriffe nicht gäbe. Sie sind leider wesentlich häufiger, als wir es eigentlich wissen möchten. Denken Sie nur an den "Sport" des Busengrapschens in der überfüllten Straßenbahn. Eltern sollten Kinder also stärken, auf sich aufzupassen.

Dazu gehört, sie altersgerecht aufzuklären ebenso wie Vertrauen aufzubauen, damit sich die Kinder in schwierigen Fällen ihren Eltern anvertrauen. Die Hilfe für Kinder muss von den Erwachsenen kommen. Konkret heißt das: zuhören, nicht aushorchen oder hineinfragen; mit den Kindern reden statt über sie. Kinder stärken heißt, ihnen das Gefühl von Selbstwert zu vermitteln. Dann sind Kinder auch sich ihrer selbst bewusst, was sie schützt.

Wie gehen Sie persönlich als Familienvater mit dem Leid missbrauchter Kinder um?
Hollmann: Es macht mich auch nach Jahrzehnten beruflicher Tätigkeit noch betroffen und wütend. Aber als professioneller Helfer gehört es eben auch zur Qualifikation, damit umzugehen. In unserem multiprofessionellen Team finden wir untereinander stets die Möglichkeit, uns in teilweise extrem schwierigen Situationen auszutauschen. Hinzu kommt die fachliche externe Supervision. Und motivierend ist die Zufriedenheit, wenn wir für ein betroffenes Kind eine hoffentlich zukunftsfähige therapeutische Lösung im Team erarbeiten konnten.

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