Timo Graumann Von Beuel-Vilich in die Bronx

BONN · Timo Graumanns Karriere als Nachwuchs-Manager schien schon perfekt vorgezeichnet. Da entschloss er sich, seinem jungen Leben eine völlig andere Wendung zu geben

 Preiswerte Sommer-Freuden in der Bronx: Eine Frau kühlt sich unter der Fontäne eines geöffneten Feuerwehr-Hydranten ab.

Preiswerte Sommer-Freuden in der Bronx: Eine Frau kühlt sich unter der Fontäne eines geöffneten Feuerwehr-Hydranten ab.

Foto: dpa

Die Jugend von heute. Eine einzige Katastrophe. Nichts als das neue Smartphone und Markenklamotten im Kopf. Ellbogen-Mentalität und eine stromlinienförmige, hedonistische Gesinnung. Soziales Engagement? Fehlanzeige.

Ist das so? Es war schon immer so: Ältere Generationen haben offenbar grundsätzlich die denkbar schlechteste Meinung von der Jugend.

So soll schon der Philosoph Sokrates vier Jahrhunderte vor Christi Geburt versichert haben: "Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer."

Zum Charakter eines jeden stereotypen Vorurteils gehört die mangelnde Überprüfung der Realität. Auch Timo Graumann aus Beuel-Vilich (Jahrgang 1989) gehört zu dieser geschmähten Jugend. Nach dem Abitur 2009 an der Integrierten Gesamtschule Bonn-Beuel absolvierte er eine dreijährige duale Ausbildung zum Wirtschaftsinformatiker beim US-amerikanischen IT-Riesen Hewlett-Packard. Studium in Ratingen, Praxistraining in Stuttgart. Jahresumsatz des international operierenden Konzerns: 115 Milliarden US-Dollar.

"Der Junge könnte von seinem Können her längst Millionär sein", mutmaßt Lehrer Bernd Martinius, zu dem der damalige Schülersprecher immer noch regelmäßig Kontakt hält.

Doch Timo Graumann schlug nach dem erfolgreichen Bachelor-Examen das Karriere-Angebot des Konzerns samt Master-Studiengang aus und einen völlig anderen Weg ein. "Ich wollte die Welt besser verstehen."

Also ging er nach Südafrika und arbeitete, bis das Touristenvisum nach drei Monaten ablief, für eine lokale Hilfsorganisation in einer Armenküche in Pretoria. "Dort habe ich gelernt, was es bedeutet, nichts zu essen zu haben. Und nicht mal ausreichend Trinkwasser bei der Hitze."

Anschließend, am 5. September 2013, flog er nach New York City, wo die christliche Hilfsorganisation Metro World Child ihren Sitz hat. Man teilte ihn für einen Bezirk in der Bronx ein. Der ärmste und problematischste der fünf New Yorker Stadtbezirke. 1,4 Millionen Menschen. 12.800 pro Quadratkilometer.

41 Prozent aller Bewohner der Bronx wurden außerhalb der Vereinigten Staaten geboren, die meisten in Afrika, Lateinamerika und im Kosovo. Ein Kulturschock für den jungen Mann aus Beuel: "Alles ist so anonym. Niemand weiß, wer auf der anderen Straßenseite wohnt. Und es interessiert auch niemanden, wie es dem Menschen auf der anderen Straßenseite geht.

In Bonn kann man sich völlig frei bewegen, auch nachts. Die Wahrscheinlichkeit, dass man in Gefahr gerät, ist äußerst gering. In der Bronx aber muss man ständig auf der Hut sein. Wer auf der Straße mit seinem Handy hantiert, gilt als lebensmüde. Jede Schule hat eine eigene Polizei, die Schüler müssen wie am Flughafen durch einen Metalldetektor." Was Timo Graumann als Sozialarbeiter in der Bronx gesehen und erlebt hat, schildert der unten stehende Text.

Auch die Rückkehr nach Bonn an Weihnachten war ein Kulturschock: "Alles kam mir so klein und überschaubar vor. Die Menschen wirken so friedlich." Die Tage des Heimaturlaubs sind gezählt. Am 10. Februar geht es wieder nach Südafrika. In die Armenküche nach Pretoria.

"Frag den doch mal!"

Metro World Child ist eine internationale Non-Profit-Organisation mit christlicher Orientierung und dem Ziel, vernachlässigten und traumatisierten Kindern der Slums von New York und inzwischen auch einigen anderen Großstädten dieser Welt beizustehen. Metro World Child ermutigt sie, die Schule nicht aufzugeben und sich von Straßenbanden und Kriminalität fernzuhalten, und kümmert sich um die seelischen wie physischen Bedürfnisse der Kinder durch individuelle Betreuung.

Die Organisation wurde 1980 von Pastor Bill Wilson im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn gegründet. Als Kind erlebte Wilson am eigenen Leib den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit des Verlassenseins: Als er eines Tages mit seiner Mutter unterwegs war, setzte sie ihn auf eine Bank und ermahnte ihn, dort brav sitzen zu bleiben und auf ihre Rückkehr zu warten.

Drei Tage lang harrte der kleine Junge tapfer aus. Aber die Mutter kam nicht mehr zurück. Ein einfacher Arbeiter entdeckte schließlich das verlassene Kind auf der Bank und brachte es in seiner Familie unter.

Um Timo Graumann und den anderen ehrenamtlichen Helfern mögliche Zweifel zu nehmen, ihre Hilfe sei doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, erzählt man sich bei Metro gern folgende Geschichte: Ein schwerer Sturm tobt an der Meeresküste und schleudert Hunderte Seesterne auf den Strand. Unermüdlich sammelt ein Junge sie ein und wirft sie zurück in die Brandung. Ein älterer Mann kommt vorbei und fragt kopfschüttelnd: "Was bringt das denn?" Der Junge hebt einen Seestern hoch und antwortet: "Frag den doch mal!"

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