75. Jahrestag der Kindertransporte nach England Oberkasseler zu Besuch bei Prinz Charles

OBERKASSEL · Was er anziehen wird, wenn er am kommenden Montag auf Prinz Charles trifft, weiß Kurt Beckhardt schon ganz genau. "Auf jeden Fall keinen dunklen Anzug, das ist doch kein trauriger Anlass, ich trage eine Kombination", meint der 86-jährige Oberkasseler überzeugt. Der britische Thronfolger empfängt zum 75. Jahrestag der Kindertransporte nach England Überlebende - und dazu zählt Beckhardt.

 Ein gutes Team: In Sheffield bauen diese Jungs aus Deutschland von 1940 bis 1942 in Fabriken Teile des Jagdflugzeugs Spitfire zusammen. Kurt Beckhardt steht hinten als zweiter von rechts.

Ein gutes Team: In Sheffield bauen diese Jungs aus Deutschland von 1940 bis 1942 in Fabriken Teile des Jagdflugzeugs Spitfire zusammen. Kurt Beckhardt steht hinten als zweiter von rechts.

Auch was Beckhardt dem Royal im St.-James-Palace in London sagen wird, steht für den Senior fest: "Ich würde seinem Land gerne danken, dass es uns gerettet hat."

Kurtchen, wie ihn seine Familie nannte, genoss in Wiesbaden zunächst eine unbeschwerte Kindheit. Sein Vater Fritz war als hochdekorierter Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. "Er hat sich in erster Linie als Deutscher gefühlt, nicht als Jude", erzählt der Sohn. Die Situation änderte sich für die Familie, wie für viele andere, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. "Ab da war ich für meine Mitschüler aus der Hitlerjugend der 'Drecksjud'", erinnert sich Beckhardt.

Vielleicht ist so zu erklären, warum seine Mutter sogleich begeistert war, ihre beiden Kinder ins fremde England zu schicken. "Die Briten hatten im Parlament beschlossen, jüdische Kinder zu retten", so Beckhardt (siehe auch Infokasten). 1938 starteten die ersten Kindertransporte auf die Insel, deshalb auch das Treffen in London. "Über das Warum haben wir vorher nicht gesprochen, aber meine Mutter hat uns das Ganze sehr schmackhaft gemacht." Erst viel später sei ihm aufgegangen, wie viel Kraft das die Mutter gekostet haben müsse. Es gab einen neuen Koffer, schöne Kleidung, und Kurtchen freute sich auf die Reise, von der er erst drei Wochen vor dem 13. Juni 1939 erfuhr.

Per Zug ging es nach Bremerhaven, dann mit einem Schiff nach Southampton. "Überall waren Kinder, das war toll." Drei Wochen später folgte seine neunjährige Schwester, die in eine Familie kam. Er hingegen war in einem Jungencamp, bis 1940/41 die Eltern über Portugal einreisen durften. "Wir haben eine koschere Metzgerei betrieben, aber mein Vater konnte sich nicht integrieren." Anders der Sohn: Kurt arbeitete zunächst für die Kriegsindustrie, dann als Kfz-Mechaniker. Das Kriegsende erlebte er auf dem Piccadilly Circus: "Da war der Teufel los, und im Herzen hab ich mich als Engländer gefühlt." Um so schwerer traf ihn der Entschluss der Eltern, 1950 zurück nach Deutschland zu gehen. "Die hat der Adolf vergessen", hätten sie häufig zu hören bekommen.

Dass er nun nach England fährt und seit ein paar Jahren über sein Leben spricht, liegt an Sohn Lorenz Beckhardt. Der WDR-Journalist wollte das Schweigen über die Familiengeschichte brechen, arbeitete mit an einem Film. Der Beueler war es auch, der Vater Kurt und Mutter Melitta (78) von Sonnenberg bei Wiesbaden nach Oberkassel geholt hat. Hier schätzen die beiden vor allem die gute Infrastruktur.

Kurt Beckhardt freut sich auf London: "Hoffentlich treffe ich Leute, die ich kenne." Denn nur zu einem Freund aus Kindertagen, Alfred Cotton aus den USA, hat er wieder per E-Mail Kontakt. Hat er die Deutschen eigentlich gehasst? "Nein, ich blicke zeitlebens nur nach vorn, nicht zurück."

Die Kindertransporte

Nach den deutschen Novemberpogromen am 9. November 1938 beschloss Großbritannien, den Juden zu helfen. Die Regierung lockerte die Einreisebestimmungen und erlaubte jüdischen Kindern bis 17 Jahre auf die Insel zu kommen. Voraussetzung: Es durfte den Staat nichts kosten. Die jüdische Gemeinde verpflichtete sich, die Kinder in Pflegefamilien unterzubringen. Die Nazis duldeten die Transporte. Bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 kamen 10.000 Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei nach Großbritannien.

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