Gespräch am Wochenende Gertrude Jöbsch erinnert sich an das Weihnachtshochwasser 1993

BEUEL · Seit ihrer Geburt lebt Gertrude Jöbsch am und mit dem Rhein. Viele Hochwasser sind in ihrer Erinnerung. Die meisten Fluten haben sie nicht aus der Ruhe gebracht, aber das Jahrhunderthochwasser Ende 1993 hat ihr Verhältnis zum Heimatstrom verändert. Über die dramatischen Tage vor dem Weihnachtsfest spricht sie mit Holger Willcke.

Ab welchem Tag war für Sie klar, dass Ihnen der Rhein bedrohlich nahe kommen wird?
Gertrude Jöbsch: Am 20. Dezember meldete der Bonner Pegel um 21 Uhr eine Höhe von 6,41 Metern. Und auch noch einen Tag später um 16 Uhr hatte sich an der Steigungstendenz von sechs Zentimetern pro Stunde nichts geändert. Aber dann nahm das Schicksal seinen Lauf. 20 Zentimeter pro Stunde hatten wir alle noch nicht erlebt. Statt adventlichem "Kling, Glöckchen" schrillten bei mir die Alarmglocken. Bei einem Pegelstand von zehn Metern war auch unser Haus in der Rheinaustraße arg gefährdet.

Wie haben Sie reagiert?
Jöbsch: Ich alarmierte meine Kinder, Sohn und Schwiegertochter in Siegen, Tochter und Schwiegersohn in Schwarzrheindorf. Zu meinem Haushalt gehörten zu der Zeit mein beinamputierter Mann, meine 95-jährige Mutter, die noch allein in ihrem Haus lebte, eine acht Monate alte Boxerhündin und eine Studentin. Verantwortlich war ich also für zwei Einfamilienhäuser und ein Bürohaus. Alle befinden sich auf dem gleichen Grundstück.

Was musste erledigt werden?
Jöbsch: Während meine Kinder, wie schon einige Male geübt, Keller ausräumten und Sandsäcke besorgten, kaufte ich notwendige Lebensmittel ein und brachte Mülltonnen, Fahrräder und Gartenmöbel auf dem höher gelegenen hinteren Teil des Grundstücks unter. In letzter Minute, der Pegelstand lag bereits bei 8,50 Metern, fuhr ich mein Auto in Sicherheit.

Was geschah am nächsten Tag?
Jöbsch: Am 22. Dezember fiel der Bonner Pegel aus. Unsere Informationen bekamen wir nur noch über den Videotext des Fernsehers. Die Tendenz war gleichbleibend steigend. Ich habe alle einschlägigen Geschäfte Bonns und Umgebung abgeklappert, um Gummistiefel oder sogenannte Watanzüge sowie Pumpen jeder Größe und Leistung zu besorgen.

Bis wohin stand das Wasser?
Jöbsch: Unser Grundstück war geflutet, die Sandsackmauer vor der Garage eingebrochen. Ebenerdig gelegene Fenster hatten wir mit Brettern abgedichtet. Abends fiel das Telefon aus. Die Oma musste aus ihrem Haus in das unsere evakuiert werden. Unseren Hund konnten wir nur noch beim Nachbarn Gassi gehen lassen.

Mussten Sie Ihr Haus verlassen?
Jöbsch: Am Morgen des 23. Dezember hat das RWE den Strom abgeschaltet. Mein Sohn hat daraufhin die Evakuierung vorbereitet. Mit seinen beiden Klepperbooten hat er uns abgeholt. Ich hatte für jeden einen Müllsack mit dem Notwendigsten gepackt: Medizin, warme Sachen, etwas Wäsche, Hundefutter. Mein Mann erschien im schwarzen Trachtenanzug mit goldener Uhrkette zur Evakuierung. Unsere 95-jährige Seniorin stieg ohne Furcht in das Paddelboot.

Wo fanden Sie Unterschlupf?
Jöbsch: Unser Gärtner wohnte im Hause meines Mannes in Bad Godesberg und war bereit, ihn aufzunehmen. Oma, der Hund und ich wurden in der Junggesellen- Wohnung meines Schwiegersohns untergebracht. Er und meine Tochter waren noch nicht zwei Monate verheiratet. Ein Problem stellte sich bei der Rettung der Lebensmittel heraus. Die Familie wollte gemeinsam bei mir in der Rheinaustraße Weihnachten verbringen, dort waren die Gefrierschränke gefüllt. Doch das Elternhaus war zum Wasserschloss geworden und leider ohne Zugbrücke.

Womit haben Sie die Zeit verbracht?
Jöbsch: Untätig und voller Sorge stand ich in unserem Ausweichquartier in Schwarzrheindorf am Fenster und beobachtete Rhein und Sieg, die zusammen schon eine riesige Wasserfläche gebildet hatten. Das Wasser stand nur noch wenige Zentimeter unter der Krone des Hochwasserdammes, der seit 1926 diesen Ortsteil Beuels vor den Fluten bewahrt hat. Ich dachte: Ob es diesmal gelingt?

Wie verkraftet man so eine Belastung?
Jöbsch: Meine Nerven lagen blank. Die Kinder versuchten, für mich ärztliche Hilfe zu bekommen. Doch einen Tag vor Weihnachten hat auch der beste Hausarzt einmal Ruhe verdient. Also, einmal heftig weinen, den Trost der erwachsenen Kinder annehmen und weiter das Notwendige tun.

War Ihr Ausweichquartier vor den Fluten sicher?
Jöbsch: Die Wohnung lag direkt am Hochwasserdamm. Wäre dieser gebrochen, wären wir verloren gewesen. Mein Sohn besaß einen Campingbus, und er beschloss, diesen auf dem höchsten Punkt in Schwarzrheindorf, auf dem einst Arnold von Wied die Doppelkirche errichtet hatte, abzustellen und dort im Bus zu nächtigen. Die Rettungsboote waren auf dem Dach des Busses befestigt, so dass er uns im Fall des Falles hätte retten können.

Konnten Sie sich überhaupt auf Heiligabend vorbereiten?
Jöbsch: Weihnachten haben wir uns auch nicht durch das Hochwasser nehmen lassen. Wir haben einen großen Tannenzweig mit selbst gebasteltem Schmuck versehen. Am Morgen des 24. Dezember deckten wir den Tisch. Im Backofen wurde ein einfaches Essen aufgetaut. Tochter und Schwiegersohn spielen Flöte und Klarinette, Oma Klavier. Noch heute sagen die Kinder, es war einer der schönsten Heiligen Abende unseres Lebens. Wir hatten ihn auf das Wesentliche reduziert: Zusammensein. Der Höchststand des Rheins lag laut General-Anzeiger bei 10,13 Metern. Am zweiten Feiertag konnten wir wieder nach Hause. Das Wasser ging relativ schnell zurück. Das Chaos um Haus und Hof herum sollte allerdings noch wochenlang an diese dramatische Weihnachtsbescherung erinnern.

Gertrude Jöbsch

Gertrude Jöbsch ist 80 Jahre alt und lebt heute noch direkt am Rhein. Ihr Schreibtisch steht keine 40 Meter vom Ufer weg. Von dort blickt sie gerne mit dem Fernglas auf die vorbeifahrenden Schiffe. Geboren wurde Gertrude Jöbsch im Combahnviertel in Beuel. Sie ist Witwe und hat zwei Kinder. Von Beruf ist sie Steuerfachgehilfin. Seit 1996 arbeitet sie ehrenamtlich als Geschäftsführerin des Heimat- und Geschichtsvereins Beuel. Seit 2011 wirkt sie zusätzlich auch noch als Vorsitzende.

Der GA lädt ins Museum

Der General-Anzeiger lädt im Rahmen seiner Diskussionsreihe "Beueler Treff" für Freitag, 27. Dezember, ins Beueler Heimatmuseum, Wagnergasse 2-4, ein. Unter dem Motto "Weihnachtshochwasser 1993 - Erinnerungen und Konsequenzen" diskutieren ab 18 Uhr Gertrude Jöbsch, Helma Linzbach, Hanns Möhle, Egon Peffekoven, Werner Baur, Hans Lennarz und Michael Thielges mit GA-Redakteur Holger Willcke. Gäste sind herzlich willkommen und können mitdiskutieren. Der Eintritt ist frei.

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