Depressionen In einer Familie den Alltag meistern

BONN · Carlos unterscheidet nicht. Der Kater freut sich immer, wenn jemand auf dem Ecksofa neben ihm Platz nimmt und sein kräftiges Fell streichelt - ganz egal, ob es Besitzerin Elke Wennekamp oder Dauergast Beatrix Pöter ist.

 Mit Kater Carlos auf dem Sofa: Gast Beatrix Pöter (links) und Hausherrin Elke Wennekamp.

Mit Kater Carlos auf dem Sofa: Gast Beatrix Pöter (links) und Hausherrin Elke Wennekamp.

Foto: Gerlind Schabert

Letztere kommt allerdings viel öfter dazu, ihn zu kraulen - sie verbringt viel Zeit auf dem Sofa. Weil die 61-Jährige unter einer Depression leidet, ist ihre Unternehmungslust eingeschränkt.

Ungewöhnliche Pläne verbieten sich von vorneherein, aber auch alltägliche Beschäftigungen scheinen ihr - durch den Tunnel der Erkrankung betrachtet - über die Maßen riskant. Was, wenn sie sich beim Spazierengehen verliefe? Wenn sie beim Einkaufen scheiterte, nicht wüsste, wie man bezahlt? Beim Kochen das Essen verdürbe? "Auch wenn ich abends einschlafe, habe ich Angst", schildert Pöter mit bedauernd emporgehobenen Brauen. "Davor, dass ich vielleicht nicht mehr aufwachen könnte." Die zerbrechlich wirkende Frau schaut sich im behaglichen Wohnzimmer um und fügt hinzu: "Das hier ist ganz einfach meine letzte Chance."

Vor vier Jahren haben Elke Wennekamp und ihre Familie in Waldbröl die Bad Godesbergerin aufgenommen. Sie hatten sich auf eine Zeitungsanzeige der "Leben in Gastfamilien", kurz "LiGa", gemeldet. Es handelt sich um ein Spezialistenteam der Bonner LVR-Klinik, das Klienten bei der Rückkehr in die Außenwelt unterstützt.

Nach Fragebogenaktion, Telefonaten und ausgiebigen Gesprächen mit "LiGa"-Vertretern trafen zwei Welten erstmals aufeinander. Hier die stille, zurückhaltende

Beatrix Pöter, dort die quirlig-patente Wennekamp-Familie: Eltern, Sohn, zwei Pflegekinder im Teenageralter, zwei erwachsene Halbbrüder, die noch besuchsweise vorbeischauen - und natürlich Kater Carlos.

Ein paar Tage Probewohnen besiegelten ein Bündnis, das längst Alltag ist. Beatrix Pöter ist dabei, wenn schulische oder berufliche Erfolge der jüngeren Generation gefeiert werden, und fährt mit in den Urlaub. Die Trauer über den Tod des Familienoberhaupts Helmut im Oktober 2013 hat sie mitempfunden und mitgetragen.

Für Arne Wennekamp ist Gast allerdings gar nicht das richtige Wort. "Ich sehe in Beatrix ein Familienmitglied wie alle anderen", sagt der 26-Jährige, der in der Einliegerwohnung im Erdgeschoss lebt. Fand er die Idee seiner Eltern, eine Fremde aufzunehmen, niemals merkwürdig? Der sportliche junge Mann schüttelt den Kopf. "Damit bin ich aufgewachsen, hier haben ja auch immer Pflegekinder gewohnt. Und heute, in meinem Berufsleben, stelle ich fest: Mir fällt es leichter, Kontakt aufzubauen und andere zu akzeptieren. Das sind Erfahrungen, die kann man sich nicht kaufen."

Elke Wennekamp ist oftmals eine Art Seelen-Coach. Die 50-Jährige hat es geschafft, Beatrix Pöter zu wöchentlichen Besuchen des Turnvereins und des Chors zu überreden - ein Riesenschritt für die schüchterne Frau, ein Schritt in die Alltagsnormalität. Immer wieder gelingt es Wennekamp, die als Altenpflegerin in Teilzeit arbeitet, ihre Mitbewohnerin vom Grübeln abzuhalten, indem sie gemeinsame Spaziergänge und Fernsehabende vorschlägt oder einfach nur um Hilfe beim Kartoffelschälen bittet. Das ungewöhnliche Zusammenleben empfindet sie trotz der damit verbundenen Verantwortung als bereichernd. "Manche meiner Bekannten können sich gar nicht vorstellen, dass man jemanden mit Handicap integrieren kann. Warum tust du dir das an? Dieses Frage habe ich schon oft gehört. Wenn sie dann Beatrix kennenlernen, sagen sie: “Man merkt ja gar nichts!„"

Mit 19 Jahren erkrankte Pöter erstmals. Doch zwischen lähmenden Depressionsphasen erlebte sie immer wieder Lebensabschnitte, in denen es rund lief - auch das prägt ihre Ausstrahlung. Über viele Jahre war sie als Verkäuferin in Geschäften des Bonner Einzelhandels beschäftigt, war zupackend und kommunikativ. Wenn sie von dieser Zeit erzählt, wechseln Stimmung und Gesichtsausdruck: Der Stolz über das Erreichte weicht dem Wissen, im Moment eine vollständig Andere zu sein.

Alle 14 Tage kommt Irene Döring von der "LiGa" nach Waldbröl und schaut nach dem Rechten. Auch wöchentliche Telefonate sind ihr wichtig. Die Entfernung zur Klinik erweist sich für ihre Klienten als äußerst hilfreich, doch alleingelassen fühlen dürfen sich weder Gast noch Gastfamilie. Im Laufe ihrer 18 Berufsjahre hat die Fachkrankenschwester für Psychiatrie oftmals erlebt, dass der Weg über die Familien Erkrankte behutsam zurück in ein eigenständiges Leben führen kann. Ob das auch für die schutzsuchende Godesbergerin irgendwann noch einmal in Frage kommt? Zumindest muss es das nicht. "Bei uns kann sie bleiben, solange sie möchte", sagt die Hausherrin entschieden, "auch wenn es bis ins hohe Alter ist." Beatrix Pöter lächelt.

Die Idee

Die Idee, psychisch Kranken im familiären Umfeld Halt zu geben, ist überraschend alt. Erstmals kam sie 1250 in der belgischen Kleinstadt Geel zum Tragen. 1882 startete ein Versuch in Deutschland und erwies sich als so erfolgreich, dass 1932 mehr als 5000 sogenannte "Pfleglinge" in Privathaushalten lebten.

Das Nazi-Regime holte die Kranken zurück in die Heime und ließ viele von ihnen ermorden. Die Heilkraft des Miteinanders geriet in Vergessenheit. 1984 sorgte der ärztliche Leiter der Bonner LVR-Klinik, Professor Tilo Held, für eine Wiederbelebung des Modells. Heute betreut "LiGa" 50 Klienten und Gastfamilien in der Region.

Leben in Gastfamilien

"LiGa" steht für "Leben in Gastfamilien". Das Team der Bonner LVR-Klinik ist auf der Suche nach Familien, die sich vorstellen können, einem psychisch erkrankten Mitbewohner in einer geeigneten Wohnumgebung Anschluss und Halt zu geben. Dabei werden sie regelmäßig beraten und betreut, zudem es gibt ein monatliches Entgelt.

Kontakt zu "LiGa": Tel. 0228/551-23 91 und klinik-bonn.liga@lvr.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort