Interview mit Bonner Islamwissenschaftlerin "Der politische Islam gehört in die öffentliche Debatte"

Bonn · Mit dem Islam in der Welt beschäftigt sich seit Jahren die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher. Sie sieht die Politik gefordert. Mit ihr sprach Rüdiger Franz.

 Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher.

Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher.

Foto: ETF

Frau Professor Schirrmacher, wenn, wie hochrangige Politiker behaupten, der Islam zu Deutschland gehört - gehört dann auch die Scharia zu Deutschland?

Christine Schirrmacher: Es kommt darauf an, was man unter dem Reizwort "Scharia" inhaltlich versteht. Meist wird im täglichen Sprachgebrauch "Scharia" als Synonym für das islamische Strafrecht gebraucht, das selbstverständlich nicht zur Rechtstradition und Verfassung Deutschlands gehört. Allerdings sind - neben der möglichen Anwendung des Internationalen Privatrechts - etwa auch die Regelungen für das Fasten im Monat Ramadan oder der gesamte Ablauf des rituellen Gebets Teil des Schariarechts, dessen Praxis durch muslimische Mitbürger längst selbstverständlicher Teil Deutschlands geworden ist.

Welche Rolle spielen dabei die muslimischen Organisationen?

Schirrmacher: Die im "Koordinationsrat der Muslime" (KRM) zusammengeschlossenen vier islamischen Dachverbände verstehen sich als Sprachrohr für "die" Muslime in Deutschland; ihre Mitgliederzahl ist jedoch teilweise recht klein. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) vertritt etwa weniger als ein Prozent der Muslime in Deutschland. Wie Umfragen zeigen, sind die Verbände daher vielen Muslimen gar nicht bekannt, setzen sich aber als "die" Ansprechpartner für die Politik in Szene. Alle vier Verbände repräsentieren den sunnitischen Islam; keiner dieser Verbände steht für den schiitischen oder alevitischen Islam oder etwa die Ahmadiyya-Bewegung.

Die Alevitischen Gemeinden in Bayern haben 2013 zu einer Distanzierung von der Scharia aufgerufen. Warum ist derlei nicht vom Zentralrat der Muslime in Deutschland zu erwarten?

Schirrmacher: Die Dachverbände vertreten einen orthodox-konservativen Schriftislam, der keine kritische Debatte und Distanzierung von der Gültigkeit des Schariarechts, aber auch keine kritische Neubewertung der traditionell-orthodox definierten verminderten Frauenrechte und ihrer Gehorsamspflicht gegenüber dem Ehemann vorsieht.

Inwieweit wird Ihrer Ansicht nach aus den muslimischen Herkunftsländern Einfluss auf hiesige Dachverbände ausgeübt? Gibt es von dieser Seite eine politisch-islamische Agenda?

Schirrmacher: Es gibt dazu keine gemeinsame Organisation oder konzertierte Strategie. Einzelne Organisationen wie die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft verfolgen über ihre Ableger in Europa jedoch Ziele wie die Verbreitung eines politisierten Islam. Kein Geheimnis ist auch, dass die hiesige türkische DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) unter Kontrolle und Leitung des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei steht. DITIB-Imame sind in der Türkei ausgebildete Beamte des türkischen Staates und erhalten ihre Freitagspredigten aus Ankara vorgegeben. Damit wirkt natürlich der türkische Islam sehr stark nach Deutschland hinein, und auch die Wahlkampfauftritte von AKP-Politikern sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Ein auf die deutschen Gegebenheiten adaptierter Islam ist das natürlich nicht.

Islamkritik wird derzeit vielfach reflexartig mit Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit konnotiert. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Kultur der öffentlichen Debatte?

Schirrmacher: Es ist sehr zu bedauern, wenn Straftaten von Migranten aus islamisch geprägten Ländern ursächlich "dem Islam" zur Last gelegt werden und damit eine generelle Ablehnung von Muslimen oder sogar Feindlichkeit gegen Muslime begründet wird. Das darf nicht sein. Kritik an unguten Entwicklungen und Geschehnissen muss jedoch erlaubt sein und die Ideologie des politischen Islam vermehrt Teil der öffentlichen Debatte werden. Andernfalls verursachen Versuche, solche Themen unter dem Deckel zu halten, erst recht Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit - und zudem Politikverdrossenheit.

Ist das ein Grund für die allseits aufgeheizte Stimmung?

Schirrmacher: Die derzeitige emotionale Debatte ist meines Erachtens auch Ausdruck von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Sorge über die gegenwärtigen Entwicklungen und fehlenden Perspektiven. Viele Menschen fühlen sich in ihren Sorgen und befürchteten Entwicklungen von Vertretern der Politik nicht ernst genommen, sie werden nicht in die politischen Überlegungen mit einbezogen. Die Kommunikation der Politik scheint mir daher stark verbesserungsfähig.

Welche Fragen muss die Politik beantworten?

Schirrmacher: Was sind die politischen Szenarien für die nächsten sechs bis zwölf Monate? Welche Integrationskonzepte gibt es? Wo sind die 300 000 Menschen oder mehr, die bisher in Deutschland nicht registriert wurden? Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben zurzeit in Deutschland? Wie kann die Abschiebung abgelehnter oder straffällig gewordener Asylbewerber durchgesetzt werden? Und welche Gegenstrategien zum Wirken radikaler Prediger gibt es, die hier insbesondere bei Besuchsreisen viel Schaden anrichten?

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