Seltene Krankheiten Dr. House an der Uni

Von vier Millionen Betroffenen gehen Experten in Deutschland aus. Neue Koordinationsstellen helfen bei schwierigen Diagnosen – darunter auch das Zentrum für seltene Erkrankungen auf dem Bonner Venusberg.

 Das fehlende Puzzlestück: Bis seltene Krankheiten richtig diagnostiziert werden, vergehen oft Jahre.

Das fehlende Puzzlestück: Bis seltene Krankheiten richtig diagnostiziert werden, vergehen oft Jahre.

Foto: pa/obs/Stiftung für Menschen mit

Die Hauptfigur der TV-Serie „Dr. House“ entspricht ziemlich genau dem Anti-Ideal eines Arztes. Er gibt sich verbittert und zynisch und ist jemand, mit dem man eigentlich lieber nichts zu tun haben möchte. Seine Patienten scheinen ihn nur als knifflige Symptomrätsel zu interessieren. Allerdings kann er die seltsamsten Krankheitsverläufe genau analysieren und so immer wieder in letzter Sekunde Leben retten.

Leider gibt es auch in der Realität immer wieder Fälle, in denen Patienten auf besonders engagierte und kompetente Diagnostiker angewiesen sind. „Unser Medizinsystem funktioniert zu 99,99 Prozent tadellos“, sagt der Internist und Kardiologe Jürgen Schäfer von der Universität Marburg, „nur gibt's diese seltenen, ungewöhnlichen Fälle, die man relativ schwer diagnostizieren kann.“

Schäfer verwendet die komplizierten, meist fundiert recherchierten, Fallgeschichten aus der beliebten House-Serie seit 2008 in einem Seminar, um seine Studenten für die Beschäftigung mit „seltenen Erkrankungen“ zu interessieren, von denen jeweils höchstens 5 von 10 000 Einwohnern betroffen sind. In Deutschland gibt es etwa 6000 bis 8000 solcher raren Syndrome, insgesamt geht man hierzulande von etwa vier Millionen Betroffenen aus.

Bis solche Krankheiten, die ein Hausarzt vielleicht einmal im Jahr zu sehen bekommt, richtig diagnostiziert werden, vergehen oft Jahre. Deshalb wurden seit 2009 an rund zwei Dutzend deutschen Uni-Kliniken Zentren für seltene Erkrankungen eingerichtet, darunter 2011 in Bonn das erste Zentrum in Nordrhein-Westfalen. „Wer kann sich mit 8000 Krankheiten auskennen? Da ist jeder Arzt überfordert!“, sagt Thomas Klockgether, Direktor der Klinik für Neurologie und Sprecher des Zentrums für seltene Erkrankungen Bonn. Die Einrichtung der Spezialzentren gehört deshalb auch zum Maßnahmenpaket der EU für seltene Erkrankungen.

Am Bonner Uniklinikum gab es bereits eine Reihe von Spezialambulanzen für seltene Erkrankungen, die jetzt interdisziplinär und koordiniert zusammenarbeiten, erläutert Klockgether. So müssen sich anfragende Ärzte und Patienten nicht selbst darum kümmern, welcher Spezialist für die Abklärung eines ungewöhnlichen Krankheitsbildes am geeignetsten wäre. Das Zentrum vermittelt jeden Fall an die richtige Stelle – auch an andere bundesdeutsche Zentren, wenn nur dort das nötige Spezialwissen vorhanden ist.

In vielen Fällen melden sich Fachärzte, weil eine Erkrankung genauer charakterisiert werden muss. „Wenn jemand etwa Muskelschwund hat, dann geht es um die Frage, welche der mehreren hundert Muskelkrankheiten es ist“, sagt Thomas Klockgether. Ähnlich sieht es bei seinem Spezialgebiet „Ataxien“ aus, die er in enger Kooperation mit Tübinger Kollegen erforscht. „Wenn Menschen torkeln, oder unkoordinierte Bewegungen machen“, sei zwar klar, dass das Ataxiezentrum zuständig ist. „Dann geht es aber darum, die richtige Diagnose zu stellen, weil es da sehr viele ganz unterschiedliche Krankheiten gibt: genetische, wo wir zur Zeit gar nichts machen können – aber auch sogenannte „erworbene“ Krankheiten, wo dann ein Stoffwechseldefekt, Vitaminmangel oder eine Entzündung vorliegt, die möglicherweise doch einer Behandlung zugänglich ist.“

Auch nicht-seltene Krankheiten verlaufen manchmal so untypisch oder kompliziert, dass sie nicht gleich erkannt werden. Daher ist im Aktionsplan des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen – kurz: Namse – vorgesehen, dass zumindest übergeordnete „Referenzzentren“ künftig auch für nicht diagnostizierte Erkrankungen insgesamt zuständig sein sollen.

Am Bonner Zentrum war bald klar, dass es nötig ist, auch dieser Patientengruppe ein Angebot zu machen. So wurde im Januar 2014 nach einem einjährigen Pilotprojekt die „Interdisziplinäre Kompetenzeinheit für Patienten ohne Diagnose“ (InterPoD) eingerichtet. „Diese Patienten machen eine lange Ärzte-Odyssee durch“, sagt Thomas Klockgether. „Es kann viele Gründe haben, warum jemand krank ist, oder sich krank fühlt und keine Diagnose gestellt wird.“ Zwar seien die Patienten „alle schon vielfach untersucht worden, aber niemand hat wirklich Zeit, sich das alles in Ruhe anzuschauen, auszuwerten und mit Kollegen zu diskutieren!“

Jürgen Schäfer fordert deshalb „Kümmererstationen“, Anlaufstellen an der Uniklinik, die einen Kranken umfassend im Blick behalten. In Bonn übernimmt die InterPoD die Rolle eines Kümmerers für Patienten, die in Kooperation mit ihrem Haus- oder Facharzt um die Abklärung ihrer Diagnose gebeten haben. Zunächst sichten Medizinstudenten höherer Semester die oft umfangreichen Krankenunterlagen, fassen sie zusammen, recherchieren in Datenbanken und holen die Meinung der entsprechenden Spezialisten ein. „Falls nötig, kommen die Experten auch zu einer multidisziplinären Diskussion zusammen“, erklärt die Koordinatorin des Zentrums, Christiane Stieber. Geprüft werden die Fälle dann von dem eigens für InterPoD zuständigen Arzt Martin Mücke, der einzelne Patienten zu einer Sprechstunde einlädt und sie, wenn nötig, einem interdisziplinären Ärzteteam vorstellen kann.

Etwa 500 Anfragen erreichen die Anlaufstelle pro Jahr, darunter einige wenige Fälle, bei denen letztlich eine seltene Erkrankung festgestellt wird. Unter den anderen Patienten klagten relativ viele etwa über diffuse Bauchschmerzen, Übelkeit und Hautveränderungen, berichtet Martin Mücke. Ohne Befund hätten diese Leute „schon viele Magen-Darm-Untersuchungen wie Gastroskopien bekommen. Die Patienten laufen immer wieder mit den gleichen Symptomen zum Hausarzt, zu Fachärzten und landen schlussendlich bei uns.“ In einigen Fällen stelle sich dann etwa eine Mastzellaktivierungserkrankung als Ursache der Beschwerden heraus.

Bei dieser Krankheit sind Zellen, die zur Immunabwehr des Körpers gehören, verändert und spielen verrückt, indem sie ihre warnenden Botenstoffe wie Histamin in immer kürzeren Abständen ausschütten und mit dieser Überdosis unter anderem Darmreizungen oder Hautveränderungen verursachen. Eine Form der Erkrankung, das Mastzellaktivierungssyndrom, kommt zwar häufiger vor, zählt aber nicht zu den Krankheiten, an die als Erstes gedacht wird, und ist auch nicht leicht zu diagnostizieren.

Bei einigen Anfragen zeigt sich auch, dass „doch die richtigen Diagnosen gestellt sind und die Patienten sie vielleicht nicht akzeptieren können – gerade, wenn eine Krankheit nicht gut behandelbar ist“, sagt Thomas Klockgether. Die amerikanische Diagnostik-Expertin Lisa Sanders hat in diesem Zusammenhang betont, wie hilfreich es sein kann, wenn es dem Arzt gelingt, nicht nur die Diagnose mitzuteilen, sondern dem Patienten zu helfen, sie mit seinem Leben in Verbindung zu bringen und ihr einen Sinn zu geben.

Solche Zusammenhänge werden bei Patienten ohne Diagnose oft hergestellt – allerdings auf die weniger einfühlsame Art. „Sie haben ja gar nichts Organisches, das ist in irgendeiner Form psychisch oder eingebildet!“, bekämen viele zu hören, berichtet Thomas Klockgether. Mitunter stelle sich im Nachhinein dann doch heraus, „dass es eine organische Krankheit ist“. In anderen Fällen können aber auch die Experten der Zentren nur eine „Somatisierungsstörung“ konstatieren.

„Die Psychosomatik spielt für uns eine große Rolle“, sagt Jürgen Schäfer, der sich seit 2013 als Leiter des „Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen“ an der Uni Marburg auf knifflige Fälle konzentrieren kann. Zuvor hatte ihn die Presse zum „deutschen Dr. House“ erklärt, woraufhin er von Anfragen ratsuchender Patienten überschüttet worden war: „Das ist mit die schwierigste Herausforderung, das auseinander zu halten: was ist rein psychisch, was ist rein somatisch?“

Gerade durch die Erfahrung solcher Entscheidungen könnten die studentischen Mitarbeiter des InterPoD viel mitnehmen, sagt Martin Mücke: „Sie lernen nicht nur etwas über viele verschiedene Erkrankungen sondern auch, wie man bei der Diagnostik seltener und häufiger Krankheiten abwägen muss.“ Diese, von Christiane Stieber und Thomas Klockgether erstmals konzipierte Einbindung der Studierenden ist an der Bonner Uniklinik inzwischen zu einem festen Bestandteil der medizinischen Ausbildung geworden – und das lässt in Zukunft auf noch mehr engagierte Diagnostiker hoffen, die nicht locker lassen, bis das Leiden eines Kranken erklärt werden kann.

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