Gespräch mit dem französischen Komponisten Hugues Dufourt Ästhetik der Energie

Hugues Dufourt setzt sich in seiner Komposition „Ur-Geräusch“ mit Beethovens „Eroica“ auseinander.

 Klangfarbenforscher: Hugues Dufourt.

Klangfarbenforscher: Hugues Dufourt.

Foto: Astrid Karger

Hugues Dufourt gilt als eine der Gründungsfiguren des Mitte der 1970er Jahre in Frankreich entstandenen Spectralisme. Die Spektralisten stellen nicht den Ton, sondern den Klang und die Klangfarbe in den Mittelpunkt ihres Komponierens. Selbst einzelne Töne sind für sie Klänge, die ein Werden und Vergehen haben, die geboren werden und sterben. Damit wandten sich die Spektralisten gegen die Serialisten, deren Musik ihnen als zu abstrakt erschien.

Vom Beethovenfest und der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung erhielt der 1943 geborene Dufourt den Auftrag, ein Werk zu schreiben, das auf eine Komposition Beethovens Bezug nimmt. Er wählte dafür die 3. Sinfonie, die „Eroica“, und gab seiner Komposition für großes Orchester den Titel „Ur-Geräusch“. Damit verweist er auf eine gleichnamige, 1919 erschienene Erzählung von Rainer Maria Rilke. Der stellt darin ein ebenso bizzares wie morbides Gedankenexperiment an. Was würde man hören, fragt sich Rilke, wenn man die sogenannte „Kranznaht“ an der Schädeldecke eines Menschen wie die Rille einer Schellackplatte auffasst und von einer Grammophonnadel abspielen lässt? Wie klänge dieses „Ur-Geräusch“?

Herr Dufourt, wird das Publikum beim Beethovenfest das Ur-Geräusch hören?
Hugues Dufourt: Ich hoffe es. Der Titel „Ur-Geräusch“ ist außerordentlich aufschlussreich. In ihm steckt eine Vorahnung des 20. Jahrhunderts, und deshalb geht er weit über das sonderbare Experiment mit einer Phonographennadel hinaus. Mit dem Titel kündigt sich eine Welt der Überlegenheit des Ohres über die übrigen Sinne an.

Rilke misstraute lange Zeit der Musik wegen ihrer verführerischen und trügerischen Kraft. Doch nach „Ur-Geräusch“ änderte er seine Einstellung. Es ist letztlich das Ohr, das alle anderen Sinne dirigiert. Das Ohr deckt die ursprüngliche Welt, die Welt in ihrem Urzustand, auf.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie in Ihrem Werk einen Bezug zu Rilke herstellen. Warum haben sie jetzt „Ur-Geräusch“ ausgewählt?
Dufourt: Rilke ist einer der bedeutendsten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Ruheloser, ein Nomade der Kultur, der Europa als Ganzes dachte. Seine Ästhetik scheint mir auf das 20. Jahrhundert weitaus besser zu passen, als es die gängigen, an der Philosophie des 19. Jahrhunderts orientierten Interpretationen vermuten lassen.

Die französische Übersetzung des Titels ist sprechender, sie bedeutet vieles, den kosmischen Lärm, die Spur längst vergangener Zeiten, die Verflechtung all der einzelnen Geräusche, die über die Epochen hinweg zu uns gekommen sind. (Hugues Dufourt hat sich nicht am deutschen Original orientiert, sondern an der französischen Übersetzung, die den Titel „Ur-Geräusch“ mit „Rumeur des Ages“, etwa „Das Getöse der Zeitalter“ wiedergibt.)

Kommen wir zurück auf die Komposition. Sie versteht sich als Hommage an die dritte Sinfonie von Beethoven. Warum gerade dieses unkonventionelle und bei den Zeitgenossen umstrittene Werk? Und welcher Art sind die Bezüge? Handelt es sich um Zitate, um Ähnlichkeiten im kompositorischen Verfahren?
Dufourt: Nichts von alldem. Mich hat vor allem die unglaubliche historische Situation der „Eroica“ interessiert. Beethoven war, wie Hegel und Goethe, Zeitgenosse der französischen Revolution und ihrer Folgen. Er sieht sich einer Welt gegenüber, die auseinanderfliegt. In der „Eroica“ lässt er die politischen Erschütterungen seiner Zeit auf halluzinatorische Weise in die sinfonische Form eintreten: hämmernde Akkordfolgen, bewusst falsche harmonische Verbindungen und andere Gewaltsamkeiten, die sich gegen die musikalische Konvention richten. Beethoven schafft mit der „Eroica“ nicht einfach ein weiteres sinfonisches Werk, sondern zwingt das sinfonische Genre, über sich selbst, über seine eigenen Formstrukturen nachzudenken. Er hebt die Instrumentalmusik damit auf ein völlig neues Niveau.

Man hört manchmal die Ansicht, Beethovens Musik sei zwar genial, klinge aber schlecht.
Dufourt: Sehen Sie, es gibt ein bemerkenswertes Buch von Hermann Scherchen („Die Natur der Musik“), in dem er die Intensivierung der musikalischen Strukturen bei Beethoven präzise analysiert. Er beobachtet in der „Eroica“ eine Ästhetik der Anstrengung, der Arbeit, der Präzision, und einen Willen, die Grenzen der Instrumente zu überschreiten. Es ist das musikalische Bild des Prometheus, eine Ästhetik der Energie, weniger eine Ästhetik der Schönheit.

Sie haben einmal gesagt, große Musik beginne ab der 15. Minute.
Dufourt: Es gibt diese Genies des Augenblicks, des Moments, wie Webern oder Debussy. Aber ich denke nicht, dass die Musikgeschichte eine Apotheose des Augenblicks sein sollte. Ich hätte meine Zweifel bei einem Komponisten, der sein Leben mit 15-Minuten-Werken verbringt.

Hat Ihre Musik einen konkreten Inhalt, gibt es Berührungspunkte mit der Welt, die uns umgibt?
Dufourt: Die Gegenwart ist eine Zeit der Dekadenz. Alles ist möglich, vom Kitsch bis zur Hybridität, es herrschen Skeptizismus, Narzissmus, Egoismus. Das alles interessiert mich nicht. Entwicklung in der Kunst gibt es nur noch nach innen, die Affekt- und Ausdrucksästhetik der Oper ist tot, auch die kosmologische Ästhetik etwa eines Xenakis ist kein Vorbild mehr. Ich verzichte auf Psychologie, auf Pathos und auch auf eine französische Ästhetik im Sinne von Klangschönheit. Man betritt vielmehr eine Welt der Erforschung der inneren Regungen („pulsions“). Die Musik wird zum Diwan der Humanität.

Zur Person

Der französische Komponist Hugues Dufourt wurde 1943 in Lyon geboren. Er studierte Klavier und Komposition am Konservatorium in Genf. Er ist Mitbegründer des Ensembles l‘Itinéraire in Paris, das sich seit 1973 der neuen Musik verschrieben hat. Für dieses Ensemble komponierte Dufourt Ende der 1970er Jahre sein zentrales Werk „Saturne“, das als Meilenstein des „Spektralismus“ gilt. Viele von Dufourts Werken wurden von Gemälden großer Meister wie Brueghel, Rembrandt, Goya oder Jackson Pollock inspiriert.

Konzert

Freitag, 23. September Beethovenhalle, 20 Uhr

„Ur-Geräusch“: Alina Pogostkina (Violine), WDR Sinfonieorchester, Marek Janowski (Dirigent), Hugues Dufourt: „Ur-Geräusch (Rilke 1919)“ für Orchester (Uraufführung, Kompositionsauftrag des Beethovenfestes Bonn, finanziert durch die Ernst-von-Siemens Musikstiftung), Ludwig van Beethoven: Romanzen für Violine und Orchester Nr. 1 G-Dur op. 40 und Nr. 2 F-Dur op. 50, Hugues Dufourt: „Ur-Geräusch (Rilke 1919)“ (Wiederholung), Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 („Sinfonia Eroica“).

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