Piraten-Partei Der neue Stern am Parteienhimmel: "Nicht käuflich, nur wählbar"

DORTMUND/MÜNSTER · Vergangenes Wochenende, Landesparteitag in Dortmund. Der Mann mit dem Piraten-T-Shirt und den zum Zopf gebundenen langen Haaren ist die Freundlichkeit in Person. "Kaffee? Mit Milch und Zucker?" Piraten sind höflich und gastfreundlich. Babak Tubis, der den Kaffee ausschenkt und belegte Brötchen gratis anbietet, kommt aus Köln.

Was macht er dort? "Ich bin der Verwaltungspirat". Verwaltungspirat? Ja, so heißt bei den Piraten, was anderswo als Generalsekretär oder Geschäftsführer daher käme. Aber Babak, der Verwaltungspirat, ist mehr. "Ich arbeite im Arbeitskreis Schnittchen mit." Soll da einer auf den Arm genommen werden? Nein, die Piratenpartei ist einfach nur anders.

Im AK Schnittchen geht es um das leibliche Wohl in diesem Fall der Parteitagsakkreditierten. Aber es gibt auch den AK Törtchen. "Und ich mach im AK Koma mit", schaltet sich eine junge Frau ins Gespräch ein. Der AK Koma sucht Gaststätten aus, in denen Stammtische stattfinden können. Denn Stammtische sind so etwas wie das Herz der neuen Partei, in der so vieles anders ist. Aber nicht alles.

Programmparteitage, wie dies einer ist, können gähnend langweilig sein. Dieser auch. Aber er ist wenigstens diszipliniert. Auf dem Podium der Mehrzweckhalle mit dem Charme der 80er Jahre steht ein schlanker Mensch, der von seinem Laptop mit monotoner Stimme die Ergänzungsanträge zum Parteiprogramm vorliest. Gleichzeitig werden sie an die Stirnwand der Halle geworfen, damit alle sie lesen können, die keinen Laptop auf ihren Knien haben. Das sind die wenigsten. Ist der Antrag aufgeblättert, "kommen wir zu den Meinungsäußerungen", sagt der Versammlungsleiter. Heißt: Einer redet pro, einer contra. Abstimmung, Ende. Keine Zwischenrufe.

So geht das stundenlang. 90 Minuten für den einen Themenblock, 90 für den nächsten. Da sage noch einer, die Piraten hätten kein Programm. Dazu später mehr.

Angefangen hat alles wie bei Ikea. Nämlich in Schweden. Dort wurde am 1. Januar 2006 die "Piratpartiet" gegründet. Auslöser war eine Internetseite mit dem Namen "pirate bay", auf der jede Menge Legales, aber auch Illegales zu finden war, weshalb die Behörden sie mit dem Argument sperrten: "Die klauen alles." Von da zum Namen der Partei war ein kurzer Weg, denn Piraten, sagen die Mitglieder in Dortmund am Tresen des AK Schnittchen, "waren ja nicht nur Verbrecher, sondern auch Freiheitskämpfer".

Womit man ganz nah an einer (wahren) Begebenheit aus dem Bundestagswahlkampf 2010 wäre. Da wurde nämlich eine betagte Rentnerin über die Vorzüge der Piraten aufgeklärt, aber die 80-Jährige konterte trocken: "Mag ja alles sein, aber was Sie da vor Somalia machen, geht gar nicht."

Piraten werden schnell missverstanden

Piraten, lehrt das Beispiel, werden schnell missverstanden. Aber es werden auch immer mehr. Die Partei gibt es mittlerweile in mehr als 40 Ländern und laufend kommen neue dazu. Genauso wie Mitglieder. Inzwischen sind es mehr als 25.000, und die Gewissheit wächst, bald die FDP überflügelt zu haben. Doch soweit ist es noch nicht. Es gibt Jupis, das sind Junge Piraten, es gibt, natürlich, Piraten ohne Grenzen, es gibt Musikpiraten, Anti-Atom-Piraten und natürlich PPI - die Pirate Parties International.

Und es gibt jede Menge Ironie. Nicht nur den AK Schnittchen. Das Parteiausschlussverfahren, kaum genutzt, nennen sie kurz PAV, Parteitage finden in "Bings" statt, weil sich Heidenheim an der Brenz 2011 keiner merken konnte, der Vorgängerparteitag aber in Bingen stattgefunden hatte. Der nächste Parteitag in Neumünster heißt folgerichtig "Neubings".

Was es bei den Piraten nicht gibt, sind Delegierte. Jedes Mitglied kann zu den Parteitagen kommen und sich akkreditieren. Bedingung: der Mitgliedsbeitrag muss gezahlt sein. Und, sagt die junge Frau am Schnittchen-Tresen: "Wenn ein Vorstand versuchte zu führen, hätte er schon verloren."

Basisdemokratie ist alles. Und ehrenamtliches Engagement. In Berlin beim Bundesvorstand gibt es eine bezahlte Kraft, eine Praktikantin auf 400 Euro Niveau. Sonst nix. Und weil es nur eine flache Hierarchie gibt, ist das mit Koalitionen auch so eine Sache: Es gibt keinen Fraktionszwang, deshalb, sagt ein anderer Pirat, "ist das auch mit Koalitionsabkommen eine schwierige Sache". Aber dass Hannelore Kraft eher auf sie zählen kann als Norbert Röttgen, ist auch klar. Im Übrigen brauche man überhaupt erst mal Parlamentserfahrung. Dass man dort im Mai einziehen wird, in den Landtag von Düsseldorf, versteht sich für die Piraten von selbst.

Und zwar mit Inhalt. Michele Marsching, der Landesvorsitzende, versprach vor dem Landesparteitag am vergangenen Wochenende. "Ab Montag werden wir (Antworten) liefern." Philipp Rösler, dem verhinderten FDP-Lieferanten, werden die Ohren geklungen haben. Und sie haben geliefert: etwa die Forderung nach einem eingliedrigen Schulsystem, der Abschaffung der Klassenverbände und des Sitzenbleibens. Bildungspolitik ist ihnen ohnehin ganz wichtig. Sie wollen mehr Verbraucherschutz, klar, mehr Netzfreiheit , einen Modellversuch zum fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehr, einen Polizeibeauftragten nach dem Vorbild des Wehrbeauftragten ("Da habt ihr doch mehr mit zu tun, mit der Polizei") und und und. Nur die Finanzierungsfragen sind noch nicht Piraten-Priorität.

Rückblende: Ende März, Halle Münsterland. Hier wollen die NRW-Piraten ihre Liste für die Landtagswahl aufstellen. Jeder darf sich aufstellen lassen, allein 56 wollen "Rampensau" werden, wie die Aufgabenbeschreibung für den Spitzenkandidaten lautet. Diskussionen um das Wahlverfahren, die Vorstellung der Kandidaten, dazu Fragen der Mitglieder, die Wahlgänge als solche - all das braucht Zeit, einen ganzen Samstag und einen ganzen Sonntag lang.

Nicht ganz dumm und Riesenschnauze

Manches wirkt skurril. Ein 34-Jähriger aus dem Sauerland stellt sich als "Motorradblogger" vor und bekennt, als Vater von sechs Kindern sei er stressresistent. Die beste Voraussetzung, um für die Piraten in den Landtag einzuziehen. Ein anderer meint: "Ich bin nicht ganz dumm und habe eine Riesenschnauze." Und wieder ein anderer - der Kölner Mike Nolte - spricht davon, er werde sogar von Düsseldorfer Piraten als Sitzungsleiter angefordert. Das wolle schon etwas heißen. Und immer lauter werdend: "Im Landtag sind wir bald nicht mehr das Publikum, sondern die Band, die den Altparteien den Marsch bläst."

Doch dann regt sich Widerstand. "Wirst du andere Kollegen im Landtag auch so beleidigen, wie du es in Ratingen getan hast?", fragt eine Piratin. Ein anderer wirft Nolte vor: "Deinetwegen ist der Vorstand in Köln kaputt gegangen." Eine Chance auf den Rampensau-Platz hat er danach nicht mehr, genauso wenig wie der Motorradblogger und der mit der Riesenschnauze.

Am Ende setzen sich jene durch, die auf der Parteitagsbühne am seriösesten wirken oder schon einige Jahre bei den Piraten aktiv sind. Auf Platz 1 steht Joachim Paul, 54-jähriger promovierter Biophysiker aus Neuss. Der 54-Jährige ist wissenschaftlicher Referent im öffentlichen Dienst, stellt Online-Medien für Schulen bereit, schult Lehrer, politisch aber unerfahren. Er hat in Münster allerdings als einer der wenigen eine landespolitische Botschaft: "NRW ist Schlusslicht bei den Klassengrößen. Wir brauchen kleinere Klassen", ruft er unter dem Beifall der Mitglieder.

Dahinter folgt mit Lukas Lamla ein Mann der ersten Stunde. "Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir unseren kleinen Klapptisch in der Düsseldorfer Fußgängerzone aufgestellt haben, um Unterschriften für die Europawahl 2009 zu sammeln", sagt er. Und er weiß das Protestpotenzial gegen die etablierten Parteien zu nutzen: "Ich bin es leid, mich von Politikern in grauen Anzügen bevormunden zu lassen." Das Resultat: Platz zwei auf der Liste.

Die drei nimmt Marc Olejak ein, der von sich sagt, unter diesem Namen sei er bei den Piraten eigentlich unbekannt. Die Partei kenne ihn nur unter "GrmpyOldMan", er sei "die digitale und analoge Allzweckwaffe". Er gehe dorthin, "wo es wehtut", sagt er, engagiere sich für Häftlinge. Aber er ist auch zuständig für die Installierung des WLAN-Netzes auf Parteitagen und weiß Rat, wenn Steckdosen nicht funktionieren.

Auf Rang vier steht Landeschef Marsching, der eigentlich zuversichtlich war, auf Platz eins zu landen. Doch das verhinderte er selbst, als er in der Woche vor dem Parteitag in Aussicht stellte, dass die Piraten der voraussichtlich im Sommer anstehenden Diätenerhöhung der Abgeordneten zustimmen würden. Das war für die Basisdemokraten zu viel an Eigenständigkeit.

In den Wahlkampf ziehen die Piraten mit Plakaten, die per Doodle, dem Anklickverfahren im Internet, ausgesucht wurden. "Lieber einen albernen Namen als lächerliche Politik", heißt es da etwa oder "Nicht käuflich nur wählbar." Und: "Wir halten uns ans Grundgesetz, da sind wir konservativ." Inhaltlich: "Keine Bildung ist viel zu teuer." Parteibezogen: "Für dieses System ist ein Update verfügbar." Doch vor dem Parteitagslokal hängt noch ein Slogan: "Vertrau keinem Plakat - informier Dich." Sie lieben halt die Ironie - die neuen Piraten.

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