Joachim Paul im Interview Der Pirat über sein neues Leben und die Schule der Zukunft

ESSEN · Joachim Paul ist die Nummer eins auf der Landesliste der NRW-Piraten. Im Interview spricht der Spitzenkandidat über sein neues Leben, die Schule der Zukunft und höhere Steuern.

Vor einem Monat waren Sie noch weitgehend unbekannt. Jetzt sind Sie Spitzenkandidat einer Partei, die fast sicher in den Landtag kommt. Kneifen Sie sich manchmal?
Paul: Morgens beim Wachwerden wird mir manchmal bewusst, was in den letzten Wochen alles passiert ist.

Was ist alles passiert?
Paul: Der Medienansturm ist einfach riesig. Heute habe ich allein zwei Fernsehtermine, ein Zeitungsinterview und eine große Abendveranstaltung. Dazu kommt der Straßenwahlkampf. Und so ähnlich ist das jetzt jeden Tag.

Wie groß war für Sie die Überraschung, dass Sie der Spitzenkandidat geworden sind?
Paul: Im stillen Kämmerlein hatte ich mir einen Platz im Fünf-Prozent-Fenster, also 1 bis 10, erhofft. Aber Platz 1, das war schon überraschend.

Was glauben Sie, warum sind Sie gewählt worden?
Paul: Vielleicht, weil ich gut drauf war und eine Wahlkampfrede gehalten habe, ein bisschen was von Politik und Moral erzählt habe und von dem Piraten-Grundsatz, dass Freiheit nur funktioniert, wenn sie gepaart ist mit Respekt und Solidarität.

Die Piraten fordern 15 Kinder in den Klassen. Die Schulministerin sagt, das koste fünf Milliarden Euro zusätzlich. Warum halten Sie dennoch daran fest?
Paul: Die Zahl ist eine Vision.

Also nicht direkt umsetzbar. Was könnte jetzt getan werden?
Paul: Nordrhein-Westfalen hat 160.000 Lehrerinnen und Lehrer. Jene, die ich kenne - das sind weit über 100 - klagen, dass sie mit Verwaltungsaufgaben überlastet sind. Nur ein Beispiel: Der Fachleiter Geschichte in einem Mönchengladbacher Gymnasium ist dort Netzwerkadministrator. Da geht ein ganzer Tag in der Woche drauf. Den Lehrern müsste eine Verwaltungsfachkraft an die Seite gestellt werden, damit Pädagogik besser möglich wird.

In Ihrem Programm steht, dass Sie den Klassenverband auflösen wollen. Ab welcher Klasse?
Paul: Ab der fünften.

Dort steht auch, Sie wollten die Einheitsschule. Was heißt das?
Paul: Wir wollen keine Schulreform von oben, sondern die Bürgerinnen und Bürger allmählich von der Einheitsschule überzeugen.

Wo liegt der Unterschied zwischen Ihrer Einheitsschule und der Gesamtschule heute?
Paul: Das Sitzenbleiben wird abgeschafft.

Das gibt es in der Gesamtschule heute auch kaum. Nochmal: Wo liegt der Unterschied?
Paul: Die Gesamtschule lässt die Schüler allein. Wir brauchen mehr individuelle Förderung.

Sollen Gymnasien und Realschulen abgeschafft werden?
Paul: Wir wollen keine Schule abschaffen, sondern langfristig unser Modell den Bürgern zum Entscheid vorstellen. Alles andere wäre unpiratig.

Jetzt gilt der Schulfrieden.
Paul: Ach der ist doch feige. Wenn wir Schule drei- oder viergliedrig so weiterlaufen lassen, ohne in Pilotprojekten zu zeigen, dass es auch anders geht, zementieren wir einen Prozess, der für eine Entsolidarisierung der Gesellschaft sorgt.

In Frankreich gibt es die Einheitsschule, in der Schüler bis Klasse neun zusammen sind. Dort klafft die Gesellschaft doch auch auseinander - trotz des Schulsystems.
Paul: Bloß weil eine Einheitsschule eine Einheitsschule ist, ist sie nicht automatisch eine gute Schule. Man kann das französische Modell, das eben nicht verstärkt auf Differenzierung innerhalb der Schule und auf individuelle Förderung setzt, nicht mit unseren Vorschlägen vergleichen. Schauen Sie doch nach Finnland. Darüber hinaus kämpft der deutsche Journalist Reinhard Kahl seit Jahren um eine differenziertere Sicht durch Publikationen vieler guter Beispiele aus verschiedenen anderen Ländern.

Können Sie verstehen, dass Menschen sich von Ihrem Namen abgeschreckt fühlen?
Paul: Ja. Aber Pirat kommt aus dem Altgriechischen. Das heißt Angreifer, und das passt dann wieder, weil wir die aktuellen politischen Zustände angreifen wollen.

Wie verstehen Sie Netzpolitik?
Paul: Netzpolitik heißt: Wir benutzen das Netz als Tool, um die Bürger mehr an die Politik heranzuführen.

Wo verorten sich die Piraten?
Paul: Wir haben Berührungspunkte zu allen. Wir haben Wertkonservative mit der Nähe zur Union. Es gibt eine Nähe zur FDP in der Wirtschaftspolitik zugunsten kleiner und mittelständischer Unternehmen. In Sachen Schlecker stehen wir nahe bei der FDP. Sie hat hier richtig argumentiert. Eine Transfergesellschaft verlängert nur den Eintrittszeitraum in die Arbeitslosigkeit. In der Bildungs-, Sozial- und Umweltpolitik haben wir eine Nähe zu Rot-Grün.

Die Grünen kämpfen jetzt verstärkt gegen die Piraten. Wundert Sie das?
Paul: Nein, überhaupt nicht. Wir graben denen ja auch das Wasser ab und sind in einigen Punkten deutlicher. Zum Beispiel in der Drogenpolitik. Die dümpelt doch seit Jahrzehnten vor sich her, ohne durchschlagenden Erfolg. Wir orientieren uns an Portugal, wo Drogen seit 2001 auf Rezept erworben werden können. Der Erfolg: Es gibt einen massiven Rückgang der Rückfallquote bei den Abhängigen, der Schwarzmarkt ist ausgetrocknet, und es gibt viel weniger Drogenkriminalität.

Die Grünen sagen, die Piraten machten keine soziale Politik.
Paul: Wir wollen prüfen, ob es ein bedingungsloses Grundeinkommen geben kann, weil sich das Recht auf Arbeit, wie es in der Verfassung steht, nicht mehr realisieren lässt.

Ihnen wird vorgeworfen, Sie ließen auch Piraten mit rechtem Gedankengut in Ihrer Partei.
Paul: Wir lassen sie nicht in der Partei, wir machen nur beim Parteiausschlussverfahren Formfehler, weil wir den ganzen Gesetzeskram noch nicht so drauf haben. Das ist ein Lernprozess. Außerdem steht in unserem Grundsatzprogramm eine klare Absage gegenüber allen Extremisten und Fundamentalisten, egal aus welcher Ecke sie kommen.

Wie groß ist der Protestfaktor bei Ihnen?
Paul: Der ist recht hoch. Andererseits zollen uns die anderen Parteien dafür Respekt, dass wir jene Bürger, die sich lange nicht an einer Wahl beteiligt haben, wieder zurück an die Urne geholt haben.

Sie haben gesagt, NRW habe ein Einnahmeproblem. Wollen Sie nicht sparen?
Paul: Unser Arbeitskreis Finanzen und Wirtschaftspolitik hat Optimierungsmöglichkeiten von 500 Millionen Euro im Landeshaushalt errechnet - ohne etwas am Einnahmenverhältnis zu verändern. Zum Beispiel könnte man an den Software-Lizenzen etwas tun. Der größte Teil der Forderungen unseres Programms ist aber nicht über den Haushalt finanzierbar.

Also ...
Paul: Schauen Sie. Das Elternpaar, dessen Kind in die Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen geht und das sieht, dass es im Kunstraum durch die Decke regnet, weil das Dach nicht mehr dicht ist, das muss sich doch fragen, ab wann sind wir Bürger systemrelevant. Den Banken wird doch wie in ein schwarzes Loch Geld hinterhergeworfen. Das klingt zwar populistisch, aber es ist Zeit, in Menschen zu investieren, nicht in Blasen.

Wollen Sie Steuern erhöhen?
Paul: Wir können da keine klare Aussage treffen, weil wir die Zahlen nicht kennen, aber es sieht so aus, dass wir an den Steuern drehen müssen. Das geht aber weitgehend nur über den Bund. Wenn wir noch die Einnahmen aus Helmut Kohls Zeit hätten, dann könnten wir auch mehr tun.

Zur Person:
Joachim Paul, geboren 1957 in Neuss, verheiratet, kam 2009 über seinen Sohn zu den Piraten. Der promovierte Biophysiker, der sich im Netz Nick Haflinger nennt, arbeitet, wenn er nicht gerade Wahlkampf macht, als Medienpädagoge beim Landschaftsverband Rheinland. Er bezeichnet sich selbst als "Pirat 2.0", publiziert regelmäßig politische Inhalte per Twitter, Facebook oder in seinem eigenen Blog. Zudem ist er Herausgeber des Internetjournals www.vordenker.de

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