Frankreich Risse in der Einheit

PARIS · Der Ruf schallte so klar aus Millionen Mündern, als käme er aus einem einzigen: "Ich bin Charlie". Ganz Frankreich schien sich zu erheben nach den Terror-Akten gegen das Satireblatt "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt in Paris.

 Paris nach den Anschlägen: Die Angst bleibt, auch wenn bewaffnete Polizisten jetzt jüdische Einrichtungen schützen.

Paris nach den Anschlägen: Die Angst bleibt, auch wenn bewaffnete Polizisten jetzt jüdische Einrichtungen schützen.

Foto: AP

Fast vier Millionen Menschen beteiligten sich am großen Gedenkmarsch, im Parlament stimmten alle Abgeordneten gemeinsam die Nationalhymne an. Das Land wirkte geeint wie nie. Zugleich kam die bange Frage auf: Was passiert, wenn der Schock nachlässt?

Schnell zeigte sich die Brüchigkeit der viel beschworenen Einheit. 200 Zwischenfälle in Schulen vor allem mit hohem Anteil muslimischer Schüler wurden seither gemeldet: Manche Kinder boykottierten die Schweigeminute für die Opfer, andere feierten die Attentäter wie Idole.

Die Angst der französischen Juden wächst, auch wenn ein Großaufgebot an Sicherheitskräften ihre Schulen und Synagogen bewacht. Zugleich verdoppelten sich die antimuslimischen Vorfälle. In Paris wurde das islamkritische Theaterstück "Gesteinigt" kurz nach der Premiere abgesagt - zensiert, sagen einige. Die Nervosität ist groß.

Zumal die Risse in der Einheit mit erklären, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass mitten in Frankreich radikale Islamisten aufwachsen, die es von innen angreifen. Wie schon bei früheren Attentaten waren die Täter auch diesmal persönlich gescheiterte Männer mit Migrationshintergrund, die sich teilweise im Gefängnis radikalisierten und erst spät zum muslimischen Glauben kamen, dann aber in seiner extremsten Form. Im Gefühl des Ausgeschlossenseins entwickelten sie einen unkontrollierbaren Hass, wie er sich bereits bei den Unruhen 2005 und 2007 in vielen Vorstädten, den berüchtigten "Banlieues", entlud.

Und wie damals blickt Frankreich auf seine ungelösten Probleme: die Ghetto-Bildung, die Schulen, in denen sich soziale Ungleichheiten noch verstärken, die hohe Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Leuten. In den Banlieues erreicht sie bis zu 50 Prozent. Nirgends scheint das Versprechen von der Gleichheit aller Menschen bitterer gebrochen als hier.

Nur wenige Bewohner dieser "heißen Viertel" beteiligten sich am Gedenkmarsch. Viele sind Muslime und fühlten sich durch die Mohammed-Abbildungen in "Charlie Hebdo" beleidigt. Manche, wie der 24-jährige Byllal aus Marseille, halten die Darstellung der Attentate sogar für ein "Komplott gegen den Islam". Seine Begründung: Ein Video im Internet zeige zwar, wie die Terroristen einen Polizisten niederschossen - Blut sehe man aber nicht. Andere finden, bei der Meinungsfreiheit werde mit zweierlei Maß gemessen, seit gegen den antisemitischen Kabarettisten Dieudonné ein Verfahren wegen Verherrlichung des Terrorismus läuft, weil er in Anspielung an den Islamisten Amedy Coulibaly erklärte, er fühle sich "wie Charlie Coulibaly".

Die Regierung kündigte an, eine Aufklärungskampagne in den Schulen zu starten und stärker mit Hilfsorganisationen in den vernachlässigten Vierteln zusammenzuarbeiten. Doch diese beklagen "Augenwischerei", solange nicht mehr Geld investiert werde. Derweil macht die Opposition Druck für entschlossene Anti-Terror-Maßnahmen.

Premier Manuel Valls räumte gestern ein, in Frankreich herrsche schon zu lange "geografische, soziale und ethnische Apartheid". Nach den Anschlägen erscheint das Land zwar nicht mehr als dasselbe. Seine alten Probleme aber sind immer noch da.

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