Fahnenträgerin Natascha Keller Eine Frage der Ehre

LONDON · Die Hockey-Spielerin Natascha Keller trägt die Fahne der deutschen Mannschaft bei der Eröffnung der Olympischen Spiele. Eine Casting-Show hat es vorher nicht gegeben.

 Eine Hockey-Dynastie: Natascha Keller trägt als erstes Familienmitglied die deutsche Fahne bei der Eröffnungsfeier.

Eine Hockey-Dynastie: Natascha Keller trägt als erstes Familienmitglied die deutsche Fahne bei der Eröffnungsfeier.

Foto: dpa

Die Vorstellung entbehrt nicht einer gewissen Komik. Da wird ein deutscher Fahnenträger gesucht, der die deutsche Mannschaft bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in London ins Stadion führen soll. Es gibt fünf Kandidaten, die bei einer Casting-Show nacheinander vorbeiflanieren und ihr Können mit der Flagge demonstrieren. Wer hält sie am höchsten? Wer schwenkt sie am anmutigsten? Wer lässt sie am schönsten wehen? Wer kann bei dieser auf Dauer anstrengenden Aufgabe noch befreit lächeln?

Schließlich geht es hier nicht nur um eine Fahne, es geht um einen repräsentativen Akt - für das deutsche Team, für Deutschland überhaupt. Eine Frage der Ehre.

"Nein", sagte Michael Vesper, Chef de Mission der deutschen Delegation in London, grinsend, eine Casting-Show habe es nicht gegeben. Man glaubt ihm: Oberflächlichkeiten haben bei der Wahl von Natascha Keller zur Fahnenträgerin 2012 sicher keine Rolle gespielt. Mit der Hockeyspielerin vom Berliner HC wird am Freitag ein Stück deutsche Olympia-Tradition als Erste ins Stadion einlaufen. Zum fünften Mal schon nimmt die 35-Jährige an Olympischen Spielen teil.

Doch hinter dem Namen Keller steckt noch viel mehr olympische Geschichte. Die Olympiasiegerin von 2004 in Athen stammt aus einer Hockey-Dynastie, die im Zeichen der Ringe Spuren hinterlassen hat. Großvater Erwin Keller gewann im Jahre 1936 in Berlin olympisches Silber. Niemand andere als die für unschlagbar gehaltenen Inder hatten die Deutschen bezwungen.

Jeweils die Goldmedaille gewannen Vater Carsten Keller 1972 in München und ihr Bruder Andreas Keller 1992 in Barcelona. Das Sieger-Gen scheint den Kellers in die Hockeywiege gelegt, denn auch der jüngste Spross, Florian Keller, wurde 2008 in Peking Olympiasieger.

Nur trägt also Natascha Keller die deutsche Fahne - nicht nur zu Ehren der Nation, sondern auch zu Ehren ihrer eigenen Familie. Als sie im deutschen Haus in den Londoner Docklands von Vesper in einer Laudatio gewürdigt wurde, strahlte sie fortwährend über das ganze Gesicht, ein wenig verlegen zwar, aber ohne Zweifel überglücklich.

"Sie hat eine enorme Ausstrahlung, mit ihrer Art ist sie ein Vorbild für alle. Natascha ist nicht überheblich, sie ist leistungsorientiert, bodenständig und erfolgreich", sagte Vesper.

"Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. So richtig kann ich es noch gar nicht glauben", sagte Natascha Keller. Erfahren hatte sie von der Entscheidung am Dienstag - mit der Bitte um Geheimhaltung. Keller: "Ich hätte es am liebsten der ganzen Welt mitgeteilt. Das ist das i-Tüpfelchen auf meiner Karriere." Ihr Glück, dass einige Teamkameradinnen dicht hielten. Die hatten die zigfache deutsche Meisterin bedrängt, als sie die Entscheidung ahnten. Keller: "Ich musste es ihnen sagen. Ich kann so schlecht lügen."

Die Berlinerin tritt die Nachfolge von Dirk Nowitzki an, der 2008 in Peking die Fahne trug. Für den Hünen war das kein Problem, aber auch Natascha schreckt vor der Aufgabe nicht zurück: "So schwer kann die Fahne ja nicht sein. Zur Not können mir die anderen ja tragen helfen." In London ist sie erst die fünfte Frau, die eine deutsche Fahne trägt, gegenüber 21 Männern. Die letzte Frau war Kanutin Birgit Fischer 2000 in Sydney.

Das Nachsehen hatten bei der Entscheidung unter anderem Sportler wie der Schütze und siebenmalige Olympia-Teilnehmer Ralf Schumann sowie Tischtennis-As Timo Boll. Als "Verlierer" wollte Vesper die Kandidaten aber nicht sehen. Es sei keine Entscheidung gegen einen Sportler gewesen. Vesper: "Es war eine Entscheidung für Natascha Keller."

Und für Hockey als erfolgreichste deutsche Mannschaftssportart bei Olympischen Spielen. So sehr sich Natascha Keller aber über die Rolle als Fahnenträgerin freut, damit zufrieden geben will sie sich nicht. "Ich will hier zum Abschluss meiner Karriere auch sportlich etwas erreichen", blickte sie dem Hockeyturnier entgegen. Eine Frage der Ehre.

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