WM 2018 So erlebte Bundestrainer Löw das Schweden-Spiel

Sotschi · Erst ein Kunstschuss von Kroos in der Nachspielzeit rettet Deutschland den 2:1-Sieg gegen Schweden – und erhält die Chance aufs WM-Achtelfinale.

Auf dem Rückflug tief in der Nacht von Sotschi nach Moskau hatte Joachim Löw wieder für Ordnung gesorgt. Anders gesagt: Seine für einen 58-Jährigen immer noch sehr kraftvollen dunklen Haare legten sich wieder wohlgescheitelt und auch sonst ordnungsgemäß um seinen Kopf. Zuvor hatten sie ein Eigenleben entwickelt, das der doch sehr auf sein Äußeres bedachte oberste Trainer des Landes nicht mehr bändigen konnte. Dass ihn diese haarige Angelegenheit in der Hitze der Nacht noch umgetrieben hat, ist aber nicht anzunehmen.

Am Spielfeldrand des Fischt-Stadions stand dem sonst so nonchalant daherkommenden Mann aus dem Schwarzwald die Emotionalität, die innere Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben. Und sie zog sich durch den ganzen, vom vielen Krafttraining gestählten Körper des Trainers – bis in die Fingerspitzen. Dieser aufwühlende Fußballabend am Schwarzen Meer hatte auch Löw mitgenommen, mehr als es zu erwarten gewesen war. Lippen lecken, Hände reiben, Haare durchzauseln – der Bundestrainer führte den Begriff der Übersprungshandlung zu neuer Größe. Er brüllte, er gestikulierte wild. Spätestens nach dem 1:0 der Schweden glich seine Frisur dann einer Carlos-Valderrama-Gedächtnis-Mähne. Nein, dieser Mann ruhte keineswegs in sich.

Seinen ebenfalls emotional angeschlagenen Spielern durfte Löw nach dem 0:1 zur Pause sein eigenes Innenleben natürlich nicht offenbaren. Es galt für ihn, den Ärger und die Unzufriedenheit nicht in die Kabine zu tragen. Was Löw wohl seiner Mannschaft dort mitgab? Er habe an die Spieler appelliert, ruhig zu bleiben und nicht die Nerven zu verlieren, sagte er nach dem 2:1 (0:1), das Toni Kroos mit seinem Freistoß, den er wie ein Botticelli-Kunstwerk schwungvoll malte, erst in letzter Sekunde sicherte. „Wir dürfen nicht in Panik verfallen“, beschwor Löw seine Spieler in der Halbzeit. Zu diesem Zeitpunkt war der Weltmeister raus aus dem Turnier. Doch dann hatte er, aufgebracht an der Seitenlinie, einen „Sieg der Moral“ verfolgt.

Dramatik pur bis zum Schluss

Löw, der sich in seinem 100. Pflichtspiel als Bundestrainer (79 Siege) gegen seine starke Neigung zur Loyalität entschied und den vielbeschworenen Weltmeister-Bonus außer Kraft setzte, indem er Mesut Özil und Sami Khedira durch Marco Reus und den früh verletzten Sebastian Rudy (Nasenbeinbruch) ersetzte, war, so schien es, mit der Kraft am Ende.

Das sieht man selten bei einem wie ihm, der auf der Bank auch schon mal dazu neigt, allzu versonnen dem Treiben auf dem Rasen zu folgen. Gegen die Skandinavier gab er bis zur letzten Sekunde in der Coaching Zone alles. Seine mit kräftigem Bizeps versehenen Oberarme wirbelten durch die Luft. Er trieb die Spieler selbst nach der Gelb-Roten Karte für Jerome Boateng zehn Minuten vor Schluss weiter vorwärts. Auch weil er wusste: Ein Unentschieden würde das ganze WM-Projekt in größte Gefahr bringen und womöglich auch seine Position als Cheftrainer des DFB. Er hatte Glück, das deutsche Team hatte Glück, aber eine sehr ordentliche zweite Hälfte rechtfertigte das. „Es war ein Krimi voller Emotionen. Die sind hochgekocht“, sagte Löw. „Es war bis zum Schluss Dramatik pur.“ Und: „Es ist das Schöne am Fußball, dass es solche Spiele gibt.“

Es war tatsächlich ein knisternder, flirrender Abend, dessen Auswirkungen auch den Protagonisten noch Stunden später anzumerken waren. Er, sagte der verletzt pausierende Mats Hummels vor dem nächtlichen Rückflug, werde sich das erlösende Kroos-Tor „mindestens tausendmal anschauen“. Eine solche Gefühlseruption hatte zuletzt das Götze-Tor von Rio in der deutschen Mannschaft ausgelöst. Auch der junge Timo Werner ließ sich von der Ergriffenheit gänzlich mitreißen. „Es war pure Erleichterung in der Kabine“, berichtete der starke Leipziger. „Jeder, der reingekommen ist, hat geschrien. Mir sind auch auf dem Platz fast schon die Tränen gekommen beim 2:1, weil es einfach so geil war.“ Und einmal in Fahrt, ließ sich der rasante Angreifer nicht mehr einfangen. „Das muss der Wendepunkt gewesen sein“, sagte er. „Wenn wir die Steilvorlage jetzt nicht annehmen und damit durchs Turnier reiten, dann hätte das ganze Spiel nichts gebracht.“

Die eigentliche Geschichte dieser Partie schrieb aber ein anderer: Toni Kroos. Der Architekt des deutschen Spiels hatte durch seinen Fehlpass und anschließendem Stellungsfehler das 0:1 durch Ola Toivonen und so den Rückfall der Deutschen in das bekannte Fehlermuster eingeleitet. „Man muss dann auch die Eier haben, die zweite Halbzeit so zu spielen“, sagte der 28-Jährige. „So ein Fehler macht dein Spiel kaputt. Oder du versuchst, alles rauszuhauen, anzutreiben, das habe ich versucht.“ Er wurde belohnt. In der fünften Minute der Nachspielzeit. Die befürchtete frühe Götterdämmerung blieb aus. Möglicherweise war es eine Initialzündung wie 2006, als David Odonkor und Oliver Neuville mit ihrem späten 1:0 gegen Polen das Sommermärchen einläuteten.

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