Kommentar zum Start der WM in Russland Vorfreude - trotz allem

Meinung | MOSKAU · Am Donnerstag beginnt die Fußball-WM. Unser Autor meint: Auch in Russland wird es Geschichten geben, die eigentlich nicht passieren können. Und nichts spricht dagegen, sich jetzt darauf zu freuen.

Um zu verstehen, was die Fußball-Weltmeisterschaft war und wozu sie wurde, lohnt ein Blick in die Kreidezeit dieses Sports. In die Zeit, als der Fußball noch kein globales Phänomen, sondern ein einigermaßen unschuldiges Spiel war.

Die europäischen Verbände waren mäßig interessiert, als 1930 die erste WM in Uruguay ausgerichtet wurde. Sie scheuten die lange Schifffahrt und fragten sich, wer den Verdienstausfall der Spieler übernehmen würde. Fifa-Präsident Jules Rimet musste auf dem alten Kontinent Klinken putzen, um zumindest Frankreich, Belgien, Jugoslawien und Rumänien zu überzeugen. Am Ende nahmen 13 Teams an der WM teil. Eine Qualifikation war nicht nötig.

Knapp 90 Jahre später ist aus der kaum beachteten Veranstaltung irgendwo in Südamerika ein Event geworden, das niemand mehr ignorieren kann - so sehr er sich auch anstrengt. Das WM-Finale 2014 in Brasilien sah eine Milliarde Menschen im Fernsehen. Im Supermarkt wirbt jeder Schokoriegel mit Fußball-Devotionalien. Keine Kneipe ohne Live-Übertragungen. Und wer es schafft, das alles auszublenden, begegnet morgens im Flur doch dem Nachbarn im Deutschlandtrikot. Es gibt kein Entkommen.

Training der deutschen Nationalmannschaft in Watutinki
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Training der deutschen Nationalmannschaft in Watutinki

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Aus 13 Teilnehmern wurden schnell 16. Dann 24, mittlerweile 32. Und ab 2026 dürfen sogar 48 Mannschaften teilnehmen. Jeder will da hin. Der Tag wird kommen, an dem auch 48 nicht mehr genug ist. Mehr Mannschaften, mehr Spiele, mehr Verdienst. Eine ebenso banale wie verlockende Logik.

Mit dem Fußball ist es wie mit allem, das für wichtig gehalten wird. Es wird überladen. Mit politischer Einflussnahme, mit wirtschaftlichen Erwartungen, mit Selbstinszenierungen der Gastgeber, mit Galas, mit Hymnen, mit staatstragenden Worten. Das Gewese um den Fußball ist oft verstörend.

Welche Ausmaße das annehmen kann, zeigte sich wieder, als US-Präsident Donald Trump denjenigen mit Sanktionen drohte, die bei der Vergabe der WM 2026 nicht für das Trio USA/Kanada/ Mexiko stimmen würden. Er bekommt seine WM.

Dabei braucht der Fußball eigentlich nichts - außer sich selbst. Er wäre nach wie vor auch ohne diese Überhöhung in der Lage, die Menschen zu versammeln. In Deutschland sorgt nicht zuletzt der Fußball für ein bisschen Kitt in der Gesellschaft. Mehr wahrscheinlich als Politik und Religion.

Seltsamerweise hat das Spiel selbst nicht gelitten. Im Gegenteil, es ist schneller, athletischer, technischer und weniger brutal geworden. Mit einem Wort - besser. Und es produziert immer noch Geschichten, die eigentlich nicht passieren können: das 7:1 der Deutschen gegen Brasilien, die wundersamen Erfolge der Isländer, den EM-Triumph der Griechen. Auch in Russland wird es solche Geschichten geben. Und nichts spricht dagegen, sich jetzt darauf zu freuen.

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