Nach Jahrhundert-Sieg im Halbfinale "Jogi bonito": Selbst Brasilien applaudiert

BELO HORIZONTE · Der Traum der Löw-Elf und von Millionen Menschen in Deutschland vom vierten WM-Sieg lebt. Der Gastgeber versinkt in Fassungslosigkeit.

Jedesmal, bevor die deutschen Spieler bei der WM aufs Feld laufen, fällt ihr Blick auf ein Nationaltrikot, auf dem alle noch lebenden Weltmeister unterschrieben haben. Auch Horst Eckel aus Kaiserslautern und der Kölner Hans Schäfer, die letzten beiden aus der Elf von 1954. Ob in Salvador, Fortaleza, Recife, Porto Alegre oder Rio, den bisherigen Stationen auf der Reise durch das riesige Brasilien, auch am Dienstag in Belo Horizonte: Immer hängt das gute Stück in der Mannschaftskabine. "Das hilft", sagt Stürmer André Schürrle, zweifacher Torschütze beim historischen 7:1 gegen Brasilien: "Es motiviert."

Es hilft der besten Nationalelf der deutschen Fußballgeschichte auch auf andere Weise. Nämlich die Konzentration hochzuhalten, auf keinen Fall nachzulassen. In der so einfachen und fundamentalen Sprache des Sports, in der ein Spiel auch schon mal 90 Minuten dauert: Den Ball flach zu halten.

Oft genug hat Bundestrainer Joachim Löw seinen Schutzbefohlenen eingeimpft, wie wichtig auf dem Weg zu einem Turniererfolg die "högschte Konzentration" sei, um ein überstrapaziertes, aber längst nicht mehr verwendetes Bonmot des Freiburgers zu verwenden. "Wir sind im WM-Finale. Das ist ein gutes Gefühl", sagte Löw nach dem Jahrhundertspiel von Belo Horizonte sehr ernst und gefasst: "Aber wir haben noch den entscheidenden Schritt zu gehen."

WM-Halbfinale: Brasilien gegen Deutschland
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Die spielerische Leichtigkeit und Eleganz, mit der Brasiliens Ballvirtuosen ausgetanzt wurden, spiegelte sich auf den Tribünen. Die wenigen Tausend deutschen Fußballfans, die Augenzeugen der Sternstunde wurden, schrien, jubelten, schüttelten ungläubig die Köpfe und brüllten die gängigen Schlachtrufe. Sangen aber auch voller Ergriffenheit mehrfach die deutsche Nationalhymne in den Schlussminuten. Ohne jeden neonationalistisch wirkenden Moment, sondern einfach aus Stolz, Deutscher zu sein und damit grenzenlose Freude am Spiel der sportlichen Botschafter des eigenen Landes zu empfinden.

Den Brasilianern nimmt schließlich auch niemand die Inbrunst, mit der sie ihre Hymne vor jedem WM-Spiel einfach doppelt intonieren. Im Gegenteil: es wird als Art zivilen Ungehorsams interpretiert, als Hinweis auf die Missstände im eigenen Land - bei allem Stolz darauf. Also alles andere als ein nationalistisches Signal.

Der Schock nach dem 1:7 war groß: Im Stadion sah man hemmungslos weinende Spieler und Tausende schluchzender Zuschauer. Zu Ausschreitungen kam es am Spielort nicht, auch wenn sie in dem riesigen 200-Millionen-Einwohner-Land nicht ganz ausblieben. In São Paulo wurden rund zwei Dutzend Busse in Brand gesetzt.

Gastgeber Brasilien zeigte sich als äußerst fairer Verlierer. Gegen Ende des Spiels spendeten die Gastgeber der deutschen Mannschaft Szenenapplaus. Jeder gelungene Pass wurde von "Hey, hey"-Rufen begleitet. Anschließend ließen Tausende und Abertausende im Land ihren Tränen freien Lauf. Die Sportler wurden beweint, nicht beschimpft. Joachim Löw äußerte Mitgefühl: "Ich kann nachempfinden, wie es der brasilianischen Seele geht. Wir haben 2006 im Halbfinale gegen Italien in der Verlängerung verloren."

Der Traum der Löw-Elf und von Millionen Menschen in Deutschland lebt derweil - der gemeinsame Traum vom vierten Weltmeistertitel nach 1954, 1974 und 1990. Das Wunder von Bern beeinflusste die Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg, der Titel im eigenen Land markierte den Abschied von der piefig-miefigen Nachkriegszeit, der Erfolg von Rom den Wiederbeginn nach der Vereinigung Deutschlands. Und welche Bedeutung würde dem jetzt greifbaren vierten Stern wohl später zugeschrieben?

Selbst wenn die goldene Spielergeneration des DFB im Finale nur die goldene Ananas gewinnen sollte: Erreicht ist schon jetzt Historisches, und das Gefühl von Dienstagabend das höchste, das Fußballer auslösen können. Ältere Mitmenschen werden sich erinnern, dass der 3:1-Sieg von 1972 gegen England in der bis dahin als uneinnehmbar geltenden Festung des Londoner Wembleystadions ebenfalls große Emotionen freisetzte - aber vergleichbar mit dem 7:1 vom Dienstagabend im Land des Fußballs? Der Erfolg von Belo Horizonte sprengt alle bisherigen Dimensionen. "Ja, das ist historisch", sagte Abwehrchef Mats Hummels: "Ich hatte schon so den ein oder anderen Moment, in dem ich gedacht habe: 'Bitte, lass das jetzt nicht irgend ne Art schönen Traum sein'."

Was ähnlich war beim historischen Erfolg vor 42 Jahren: Auch er war "nur" ein Schritt auf dem Weg zu einem Titel. Deutschland wurde Europameister durch ein 3:0 im Finale gegen die Sowjetunion. Auf den 72ern, die zwei Jahre später den WM-Titel im eigenen Land holten, gründet ein ganzes Stück weit der Stolz der Fußball-Nation.

Auch sie standen im Ruf der Schönspieler. Warum das mehr zählt als der bloße Erfolg? Neben der oft erfahrenen internationalen Anerkennung für perfekte Organisation, Fleiß und Zielstrebigkeit umtreibt die Deutschen nicht selten der Wunsch, von der Welt als emotionale, zur Freude fähige Wesen wahrgenommen zu werden. Das Sommermärchen 2006 hat dazu beigetragen.

2014 ist die Fortsetzung schon vor dem Finale geglückt. Ein Wortspiel sagt fast alles: "Jogi bonito" hat die brasilianische Presse das Spiel der Deutschen getauft. Als Wertschätzung des schönen Spiels ("jogo bonito") der Auswahl von Bundestrainer Löw. Der Auftritt in Belo Horizonte hat dem deutschen Fußball nie dagewesene Imagewerte verschafft, und selbstverständlich färbt das auf die Nation ab in einer Zeit, in der Fußball das vielleicht wirksamste nationale wie internationale Bindeglied in ansonsten auseinanderdriftenden Gesellschaften darstellt.

Der Gassenhauer der Sportfreunde Stiller, den so manche Zeitzeugen des Traumsommers vor acht Jahren seither bei jedem großen Turnier wie aus einem inneren Zwang vor sich her summen - er hat ausgedient. Zumindest eines, was damals noch zutraf, hat sich umgekehrt: "Wir haben nicht die höchste Spielkultur, sind nicht gerade filigran."

Die Siege gegen England (4:1) und Argentinien (4:0) bei der WM 2010 waren die Vorboten, inzwischen gehen die Fähigkeiten deutscher Nationalspieler weit über die der "Leidenschaft im Bein" hinaus. 7:1 gegen Brasilien, man kann das Ergebnis nicht oft genug wiederholen, sich die Tore noch einmal anschauen, eines brillanter herausgespielt als das andere.

"Wir haben gegen eine großartige Mannschaft verloren", lobte Felipe Scolari. Es folgte die höchste Auszeichnung, die ein Trainer der Seleção vergeben kann, als er auf das "Jogi bonito" zu sprechen kam: "Es ist eine brasilianische Spielart, wie sie die Räume öffnen und Tore schießen. Alle Spieler haben Talent im Umgang mit dem Ball."

Selbst die Engländer rücken von der ebenso populären wie profanen Einschätzung ab, Fußball sei ein Spiel, bei dem 22 Männer dem Ball nachjagten und am Ende gewinne Deutschland. Ein BBC-Journalist von der Insel stellte gestern lapidar fest: "Ich würde so gerne Deutscher sein." Mehr Anerkennung geht nicht.

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