Vorbericht und Videobotschaft vor dem Halbfinale Die Veränderung des "netten Herrn Löw"

SANTO ANDRÉ · "Wir sind noch nicht fertig", hat Löw zu noch früherer Stunde via Video- und Textbotschaft über das DFB-Internetportal verlauten lassen: "Meine Vorfreude ist wahnsinnig groß, so geht es allen bei der deutschen Nationalmannschaft, und ich glaube, so geht es allen Deutschen.

Das Frühstück muss noch ein bisschen warten. Dienstagmorgen, viertel nach sieben: Mit dunkler Sonnenbrille läuft Joachim Löw in türkisfarbener Sportkleidung der Morgensonne über dem Atlantik entgegen. Zum Abschluss noch ein langgezogener Sprint durch den Sand am Strand hinter dem Campo Bahia, dann wieder rein in das Basisquartier der deutschen Nationalelf durch das Schlupfloch auf der Rückseite des Naturressorts. So darf ein Tag beginnen.

Um sieben Uhr morgens am Strand von Santo André ist die Welt für Löw in Ordnung. Unabhängig davon, ob Fernsehkameras die Bilder des sportelnden Bundestrainers in deutsche Wohnstuben transportieren oder nicht. Er steht über dem, was die Medien machen. Auch am Tag vor dem Klassiker zwischen WM-Gastgeber Brasilien und Deutschland im Halbfinale (heute, 22 Uhr, ZDF) hat er sein persönliches Fitnessprogramm absolviert. Bloß nichts an der Routine ändern, jetzt, wo alles so gut läuft. Sein Masterplan könnte aufgehen. Dafür lebt er.

"Wir sind noch nicht fertig", hat Löw zu noch früherer Stunde via Video- und Textbotschaft über das DFB-Internetportal verlauten lassen: "Meine Vorfreude ist wahnsinnig groß, so geht es allen bei der deutschen Nationalmannschaft, und ich glaube, so geht es allen Deutschen. Eines steht fest: Wir wollen unbedingt noch mal in Rio im Maracanã-Stadion spielen. Am 13. Juli." Eine klare Ansage, obwohl dazwischen der Rekordweltmeister und Gastgeber steht.

Der 54-Jährige hat sich rar gemacht, nicht erst in Brasilien. Dort hat er die Pflichttermine bei den Fernsehsendern und den internationalen Pressekonferenzen an den Spielorten abgearbeitet, ansonsten keine Interviews gegeben. Was er macht, macht er höchst professionell, aber mit einem Schutzpanzer. Er ist unverbindlicher geworden, sein früher so einnehmendes Lächeln gefriert zur Maske. Löw hat sich stark verändert in den vergangenen acht Jahren. Er wirkt nach wie vor authentisch, aber stets reserviert, kontrolliert und misstrauisch. Nie trat dies deutlicher zutage als bei der WM 2014, doch begonnen hat der Prozess lange vorher. Anfangs, nach dem als Ghostwriter Jürgen Klinsmanns von ihm mitgeschriebenen Sommermärchen 2006, war er unverbraucht. Wurde von den meisten Journalisten als "der nette Herr Löw" beschrieben.

Inzwischen ist er "der fremde Deutsche", wie das Nachrichtenmagazin "Spiegel" am Montag in einer Titelgeschichte treffend die zwischen Fußballvolk und Bundestrainer entstandene Distanzierung beschrieb. Sie gipfelt jedoch in der maßlos überzogenen Feststellung: "Man müsste Joachim Löw für die Verdienste um sein Land auf Knien danken, aber seltsamerweise wird der Mann in seiner Heimat nicht geliebt und nicht verstanden."

In der Story bekommt auch die Medienmeute ihr Fett weg. Nicht unberechtigt. Wenn auch ein Stück weit selbstentlarvend: Derselbe Autor schrieb vor Jahren die "Schwulen-Combo"-Story, die auch das Image Löws beeinträchtigte und die Distanzierung vorantrieb.

Danach agierte Löw in der Öffentlichkeit anders. Wurde misstrauischer und vorsichtiger. Größter Einschnitt aber war das "vercoachte" Halbfinale bei der EM 2012. Fataler als seine Fehler in Aufstellung und beim Einwechseln wirkte seine Schwäche, diese zuzugeben nach dem 1:2 gegen Italien. Was langjährige Wegbegleiter der Nationalelf nie verstanden haben, weil er sich die Offenheit hätte leisten können. Die Schlagzeilen müssen ihn sehr verletzt haben. Es hieß, er habe "verloren gegen sein Selbstbild", sich "verzockt und entzaubert", sich "auf der Suche nach der verlorenen Identität" verlaufen, und "Bild" fragte in riesigen Lettern zart mitfühlend: "Werfen Sie hin, Herr Löw?" Kein Wunder, dass Löw sich unverstanden fühlte. Diesen Eindruck erweckt er auch bei der WM in Brasilien, wenn er in die Kameras schaut oder den Blick über die Journalistengesichter schweifen lässt. Weniger Wohlgesonnene legen ihm dies als Arroganz aus.

Selbst DFB-intern hat sich Löw abgekapselt. Das bestätigen Mitarbeiter des Verbandes. Auch dafür hat er gute Gründe. Mehrfach wurden Informationen zur Aufstellung an Medien weitergegeben. "Inzwischen erfahren wir auch erst am Tag des Spiels, ob wir in der Startformation stehen", verriet Jérôme Boateng in Santo André: "Früher wurde ja schon mal das ein oder andere ausgeplaudert." Auch deshalb hat Löw den Kreis seiner Vertrauten verkleinert - ein Rückzug aus Selbstschutz. "In erster Linie spreche und diskutiere ich natürlich mit Hansi Flick und Andy Köpke", erklärte Löw am Montag auf der DFB-Homepage. "Auch Oliver Bierhoff hilft mir manchmal mit seiner Sichtweise. Aber wissen Sie: Am Ende bin ich es, der die Entscheidungen trifft."

Auffällig ist ein ziemlicher Kontrast zu seinen Anfangstagen als Bundestrainer. Bereitwillig gab Löw damals Interviews, erklärte geduldig die Grundlagen der neuen Fußball-Philosophie, die den Deutschen seither so viel Freude bereitet hat. Endlich einer, der (wie Klinsmann) weg wollte vom oft verspotteten Image der Rumpelfüßler-Republik. Weg vom rein ergebnisorientierten, hin zum schönen Spiel. Viel ist seither passiert. Das "jogo bonito" hat dem dreimaligen Weltmeister im eigenen Land eine noch nie dagewesene Fan-Begeisterung beschert. Und eine völlig neue Wertschätzung seiner Spielkunst rund um den Globus. "Deutsche Panzer" - die Zeiten sind längst vorbei. Auch auf dem Papier ist seine Bilanz unerreicht: Gemessen an den Ergebnissen aller Spiele seiner Ära (110 Spiele/75 Siege) ist der Freiburger der erfolgreichste Nationaltrainer der deutschen Fußballgeschichte. Zum vierten Mal in Folge erreichte er bei den großen Turnieren die Runde der letzten Vier (2008 EM-Zweiter, 2010 WM-Dritter, EM 2012 und WM 2014 Halbfinale).

Dennoch fehlt Löw noch der große Wurf, ein Titel. Ohne einen solchen rückt er nicht in die Reihe der legendären deutschen Bundestrainer Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer auf, die Weltmeistermacher 1954, 1974 und 1990. Er bliebe ein Unvollendeter. Deshalb hat er sich mit der in puncto Potenzial wohl besten deutschen Mannschaft der Geschichte ein Stück weit vom Idealbild des schönen Spiels entfernt. Hin zum ergebnisorientierten Kopf-Fußball - mit intensiverer Defensivarbeit. Löw hat verstanden: Für den Erfolg ist nüchterner Pragmatismus vonnöten.

So sachlich und gefasst, wie Joachim Löw in den vergangenen Tagen ohne erkennbaren Anflug von Verärgerung auf gelegentlich überkritische Journalistenfragen antwortete, so kontrolliert hätte er wahrscheinlich nach einem Ausscheiden gegen Algerien oder Frankreich auch seinen Rücktritt als Bundestrainer verkündet. Holt seine Elf den vierten Stern für Deutschland, dann ist alles gut. Aber seiner Kapsel wird Joachim Löw wahrscheinlich nicht mehr entsteigen können.

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