"Steif" in Kitzbühel Sturzflug in die Mausefalle

KITZBÜHEL · Die berühmt-berüchtigte "Streif" in Kitzbühel gilt als die ultimative Mutprobe der Ski-Rennläufer. Am Samstag feiert der Wahnsinn Jubiläum.

 Am liebsten hätte er das Starthaus wieder verlassen, erzählt der Schweizer Didier Cuche, hier beim Sprung auf der "Streif", im Dokumentarfilm "One Hell of a Ride", der derzeit in den Kinos läuft.

Am liebsten hätte er das Starthaus wieder verlassen, erzählt der Schweizer Didier Cuche, hier beim Sprung auf der "Streif", im Dokumentarfilm "One Hell of a Ride", der derzeit in den Kinos läuft.

Foto: dpa

Horror hat einen Namen - "Streif". Die berühmteste Skiabfahrt der Welt. Sie zerschmettert Karrieren - und bringt ihre Sieger in die Ruhmeshalle. An diesem Samstag ist es mal wieder so weit - Kitzbühel 2015. Eine Jubiläums-Abfahrt: die 75. Austragung. Ein Rennen, bei dem selbst Super-Stars immer noch blass werden. Denn: Der Starthang ist ein Schock. Die Stürze sind ein Wahnsinn. Und der Spannungsgehalt ist nicht mehr zu überbieten. Was Wimbledon für die Tennis-Fans und Monte Carlo für die Formel-1-Freaks - das ist dieses Tiroler Event für die Schnee-Szene: der Höhepunkt der Saison.

Event? Aber sicher. Denn Kitzbühel bezieht nicht nur aus dem Sport, sondern auch aus der Show seine Faszination: Die einen sagen, "Kitz" sei im Grunde ein Münchner Rennen. Weil sämtliche Schicki-Mickis Münchens sich am jeweiligen Weltcup-Wochenende in ihre Pelzmäntel werfen, um zur großen Hahnenkamm-Sause zu sausen. Und die anderen behaupten, Kitzbühel sei im Grunde ein Wiener Rennen - weil sämtliche Promis der Donau-Metropole es ihren Münchner Spezis gleichtun. Gefeiert wird vereint.

Was macht diesen Kitz-Mythos aus? Keine Frage: die furchteinflößende, megasteile Strecke mit einem Gefälle bis zu 85 Prozent. "Sind die verrückt. Da soll ich runter?", hat sich Olympiasieger Stephan Eberharter bei seinem Premieren-Auftritt dort gedacht. Und Franz Klammer durchfuhr nur ein Gedanke: "Da fahr' ich nicht!" Natürlich fuhr er 'runter - "es wurde meine Lieblingsstrecke".

Die Abfahrt auf der "Streif" ist ein Hasardeur-Spiel. Ein Tanz auf der Rasierklinge. Was für Stürze und Dramen! Man denke nur einmal an die letzten Jahre:

2008: Der US-Amerikaner Scott McCartney erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma, muss in ein künstliches Koma versetzt werden - tritt aber im Winter darauf in Kitzbühel selbstverständlich wieder an.

2009: Der Schweizer Daniel Albrecht erleidet gleichfalls ein Schädel-Hirn-Trauma und muss ebenfalls in ein künstliches Koma versetzt werden. Dazu kommt noch eine Lungenquetschung.

2011: Der Österreicher Hans Grugger stürzt derart schwer, dass er seine Karriere beenden muss.

30.000 eilen jedes Jahr nach Kitzbühel, um jenes nervenzehrende Gänsehautgefühl mitzuerleben. Die ganze "Streif" hinauf stehen die Menschen dicht gedrängt - um einmal im Leben zu sehen, ob das wirklich so schlimm ist, wie es im Fernsehen immer wirkt. Und sie stellen fest - es ist viel schlimmer. Wie Rennwagen rasen die Ski-Piloten an ihnen vorbei. Abfahrtslauf - die Formel 1 des Skisports. Und Kitzbühel - keine Frage - ist das Monte Carlo. Wengen, Gröden, Garmisch und Val d'Isère sind die anderen Formel-1-Orte. Die Klassiker. Aber noch eine Klasse unter Kitz.

Auto und Ski - ein realer Vergleich: Das große Geld, den Rausch der Geschwindigkeit, die wahnwitzige Gefahr kennen beide. Dazu die Angst. Den Mut. Die Materialfrage. Das Streckenstudium. Die Unwirklichkeit des Grenzbereichs. Das Glück des Überlebens. Der einzige Vergleich, der hinkt: die Knautschzone. Jene der Ski-Hasardeure ist millimeterdünn.

Kitzbühels Starthang ist die Brutalität schlechthin. Der Südtiroler Olympia-Bronze-Gewinner Roland Thöni einst: "Du stehst am Start, schaust 'runter - und hast das Gefühl, ein Turmspringer zu sein." Steilheit hoch drei. Österreichs Abfahrts-Weltmeister Harti Weirather: "Von null auf 100 in drei Sekunden. . ." Und gleich nach diesem auf 1652 Metern Höhe gelegenen Wahnsinns-Start wartet bereits die atemberaubende "Mausefalle". Die unbarmherzig zuschnappt, wenn man nicht aufpasst. Oder wenn man defensiv, also mit Angst, diese Passage bewältigen will und mit zu starker Rücklage an diese Kante kommt. Dann fliegt man bei Tempo 120 nicht die normalen 40 bis 50 Meter durch die Luft, sondern wesentlich weiter. Und stürzt. "Jeder, der hier an den Start geht, ist sich des Risikos bewusst", sagt der Vorjahressieger Hannes Reichelt.

Wobei diese Stürze in der Mausefalle fast immer glimpflich ausgehen. Sie wirken zwar unglaublich spektakulär - sind aber weniger tragisch, als es den Anschein hat: weil Stürze in Steilstücken wesentlich ungefährlicher enden, als wenn der Körper nach langem Luftflug krachend im Flachen aufschlägt. Der anschließende Steilhang ist in puncto Weltcup-Sieg eine extrem entscheidende Stelle. Denn wer diese hängende Kurve nicht richtig erwischt, ist im folgenden Flachstück ein armer Teufel, was das Tempo betrifft.

In einem Flachstück war es auch, wo der Niederbayer Klaus Gattermann 1986 seinen unvergesslichen Sturz baute. Er kann in diesem Jahr quasi seinen 29. Geburtstag feiern. Unendlich lange schoss damals sein Körper Kopf voraus durch die Luft, schlug auf mit einer Brachialgewalt, die das Blut gefrieren ließ. Dann die Fernsehbilder seines Abtransportes, die Szene des wie leblos am Helikopter baumelnden Gattermann: Bilder, die auch heute immer noch gezeigt werden und jedes Mal erneut schockieren. Der Sturz-Pilot sagt heute im Rückblick: "Es gibt halt mehrere Möglichkeiten, auf der Streif berühmt zu werden..."

Am Samstag geht es in Kitzbühel wieder an den Start. Schnallen Sie sich in Ihrem Fernsehsessel an. Oder kommen Sie nach Kitz.

Zum 75. Jubiläum der legendären Abfahrt in Kitzbühel ist "Streif - One Hell of a Ride" (ein Höllenritt) in den Kinos angelaufen.

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