Manche Herberger-Biographie müsste überarbeitet werden

Der Oberkasseler Werner Sottong feiert am Samstag seinen 95 - Geburtstag - Vertrauter von Reichstrainer Otto Nerz - Die Wahrheit über die Fußball-Weisheiten - In Gefangenschaft Fußballturniere organisiert - Zeitzeuge im ZDF

Manche Herberger-Biographie müsste überarbeitet werden
Foto: Wolfgang Henry

Bonn. Der Blick wandert immer wieder zur Wohnzimmermitte. Dort steht der Fernseher, und gerade spielen die deutschen Frauen gegen Russland. "Ist die Birgit Prinz schon aus dem Spiel? Die habe ich lange nicht mehr gesehen." Selbst der vor ihm stehende Kaffee und der Mandelkuchen bleiben unberührt. Wenn es um Fußball geht, wird für Werner Sottong vieles zur Nebensache.

Das ist heute nicht anders als vor sieben Jahrzehnten, als Reichstrainer Otto Nerz den gebürtigen Essener an die Hochschule für Leibesübungen nach Berlin holte.

Nerz-Nachfolger Sepp Herberger war er später als Reichssportlehrer unterstellt. Am Samstag feiert Sottong in Oberkassel seinen 95. Geburtstag.

In diesem Alter und mit diesem Wissensstand ist man gefragt in Deutschland. Seine Erlebnisse aus zwei Weltkriegen, seine Detail-Kenntnisse über die Nerz- und Herberger-Epoche machen Sottong zu einem Zeitzeugen des vorigen Jahrhunderts.

Vom ZDF wurde er interviewt, Ex-Nationalspieler Wolfgang Weber bediente sich bei seiner Diplom-Arbeit über Herberger ebenso in seinem Fundus wie angesehene Biographen des "Chefs". Und der betagte, aber ausgesprochen vitale Herr ist noch heute nicht bange, die Autoren persönlich auf Fehler in ihren Büchern hinzuweisen. Als Nerz- und Herberger-Intimus widerlegte er so ein in zahlreichen Biographien gezeichnetes Bild.

Die Fußball-Weisheiten von den 90 Minuten, die ein Spiel dauere, vom nächsten Gegner, der ja immer der schwerste sei, und vom Ball, der schließlich rund sei, diese Thesen also, die unverrückbar für Herberger stehen, die habe Otto Nerz schon Ende der 20er Jahre gepredigt.

Wie zum Beweis holt er ein paar leicht vergilbte Hefte aus dem Schrank. "Hier, gibt''s nur einmal in Deutschland - bei Werner Sottong in Oberkassel." Die Rarität in DIN-A-5-Format mit Titeln wie "Der Verteidiger", "Der Läufer", "Der Stürmer" oder "Technik und Taktik" weist als Verfasser den Reichstrainer Otto Nerz aus. Und darin sind in der Tat auch die bekanntesten Floskeln der deutschen Fußball-Geschichte zementiert.

Nerz, dessen Fachkompetenz Sottong noch heute rühmt, starb 1949 in einem sowjetischen Lager. Wenige Monate vor seinem Tod schrieb der Professor einen Lebenslauf, mit dem er sich nach dem Ende seiner Internierung um eine neue Anstellung bewerben wollte. Auch dieses Dokument ist im Besitz des Oberkasselers. Er erhielt es von Nerz-Sohn Robert zugeschickt, den er vor einigen Jahren in Berlin kontaktiert hatte.

Seine Liebe zum runden Leder entdeckte der diplomierte Sportlehrer vor 85 Jahren. Bei Schwarz-Weiß Essen spielte er in der Jugend, kam schon mit 17 Jahren in der ersten Mannschaft zum Einsatz und wäre wegen seines Faibles für den Fußball fast nicht zum Abitur zugelassen worden. Nach einer Verletzung im Spiel gegen Schalke 04 wollte der Rektor ihn wegen "moralischer Unreife" von den Prüfungen ausschließen. Die Fürsprache eines befreundeten Journalisten wendete schließlich das Unheil ab.

Später spielte er bei der Frankfurter Eintracht, gehörte 1932 im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft gegen Bayern München in Nürnberg allerdings nicht zur ersten Elf. Immerhin lernte er beim anschließenden Bankett Nerz kennen, der ihn zur Trainerlaufbahn überredete. Zunächst unterrichtete er in der Hochschule für Leibesübungen in Berlin, dann weckte eine Anzeige im "Kicker" seine Neugierde.

Die Stuttgarter Kickers suchten einen Trainer. Dank der Empfehlung von Nerz ("Ich kann Ihnen diesen dynamischen Mann nur wärmstens ans Herz legen") bekam er den Job. Die 1 000 Mark netto im Monat, die die Kickers dem jungen Trainer zahlten, waren gut angelegt. Auf Anhieb wurden die Stuttgarter Württembergischer Meister. Nach dem Krieg folgten Stationen bei SW Essen, RW Essen, RW Oberhausen und Borussia Mönchengladbach.

Seine Trainerausbildung war Sottong auch in der Kriegsgefangenschaft zugute gekommen. In den Lagern rund um Rimini trainierte er Soldatenmannschaften und organisierte mit Genehmigung der Engländer und Amerikaner Fußballspiele, um dem Lagerkoller vorzubeugen. In jedem Camp, das er zwecks Vorbereitung der Spiele aufsuchte, notierte er heimlich Adressen von Soldaten und übergab sie dem Roten Kreuz, 600 insgesamt.

So erhielten die Angehörigen zu Hause oft erstmals ein Lebenszeichen von ihren Männern, Brüdern oder Söhnen. "Das", sagt Werner Sottong nicht ohne Stolz, "war mein größter sportlicher Erfolg".

Seine Erlebnisse während der Kriege, die Zeit mit Nerz, Herberger und im Bonner Beethovenhaus, wo er Touristen 17 Jahre in die Welt des Komponisten entführte, hat er niedergeschrieben. Erinnerungen eines Zeitzeugen. Im Familien- und Bekanntenkreis hat sie jeder gelesen - ein Verleger aber hat sich nicht gefunden.

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