Sprinter und Weitspringer Markus Rehm "Es ist, wie es ist"

BONN · Markus Rehm hat Außergewöhnliches erreicht. In London holte er 2012 die Goldmedaille im Weitsprung. Der Paralympics-Sieger in einem GA-Interview über den schicksalhaften Tag seines Unfalls, Gläubigkeit und den ungewöhnlichen DM-Start.

Am 24. Juli 2013 sprang er in Lyon Weltrekord: 7,95 Meter. Ausgangspunkt seiner Erfolge ist aber eine Tragödie, in deren Folge er zehn Jahre zuvor den rechten Unterschenkel verloren hat. "Man muss in der Herausforderung die Chance sehen", sagt er inzwischen. Nächste Woche will Rehm seiner Erfolgsgeschichte ein weiteres Kapitel hinzufügen.

Wenn Sie anderen erzählen, was Sie am kommenden Wochenende vorhaben, verwenden Sie dann das Wort "normal"?
Markus Rehm: Nein. Ich starte bei den Deutschen Meisterschaften der nicht-gehandicapten Leichtathleten in Ulm. Normal sind wir doch alle. Also fast - Sie wissen schon, was ich meine...

Wie ist diese DM-Teilnahme zustande gekommen? Benötigen Sie eine zusätzliche Einladung oder reicht die nachgewiesene Qualifikationsweite?
Rehm: Die Norm reicht. 7,55 Meter waren gefordert. Und wer die Leistung erbringt, ist berechtigt, bei Deutschen Meisterschaften zu starten.

Da gibt es keine Differenzierung zwischen mit und ohne Handicap?
Rehm: Ist ja vorher noch nie passiert. Man wusste nicht genau: Was machen wir jetzt? Ich habe die Norm geschafft; deshalb musste sich der Verband damit beschäftigen, denn: Der Kerl will doch sicher mitspringen... Klar will er!

Im Prinzip ist dieser DM-Start ein Testballon. Es geht doch weiter um die Vergleichbarkeit der Leistungen. Das ist innerhalb der paralympischen Klassen schon schwierig, hier ist es noch schwieriger...
Rehm: Ich habe gesagt: Setzen wir uns zusammen, ich beantworte Fragen, ich stehe für Untersuchungen zur Verfügung. Ich verstehe die Diskussionen, aber ich hoffe auch, dass ich verstanden werde. Irgendwann kam dann die Zusage. Ich darf starten, unter Vorbehalt. Auch das kann ich verstehen. Ich will niemandem eine Platzierung wegnehmen, sondern ich will einen schönen Wettkampf haben. Ich will für mich selber ein neues Ziel haben - das ist der Grund, warum ich in Ulm dabei sein will.

Sie sollen jetzt beim Erkenntnisgewinn helfen. Wie wird das aussehen?
Rehm: Das kann ich auch nicht genau sagen. Viele Diskussionen hinter meinem Rücken basieren auf falschen Daten. Man muss versuchen, Anlaufdynamik, Absprung, die Geschwindigkeit, die ich überhaupt erreichen kann und so weiter zu messen - und nicht nur die Eigenschaften einer Karbonprothese. Da steht ein Mensch dahinter. Der nebenbei auch ein zweites Bein hat, das was tut.

Was wird dabei herauskommen?
Rehm: Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass man mir einen Vorteil nachweisen wird, aber wenn es so ist, akzeptiere ich das.

Was wünschen Sie sich als sportliches i-Tüpfelchen?
Rehm: Das ist ein Riiiieeesen-Wettkampf für mich. Ich möchte ins Finale der besten Acht kommen und da dann einen Mittelfeldplatz erreichen.

Wären Sie in diesem Finale - aus Ihrer ganz persönlichen Sicht - einfach einer von Acht, oder würden Sie sagen: "Ich habe mehr erreicht als die anderen, weil ich gehandicapt bin" ?
Rehm: Nee, um Himmels Willen. Viele glauben, ich will da ein Riesen-Thema draus machen, nur weil ich ein Handicap habe. Aber darum geht's gar nicht. Ich mache meinen Sport unglaublich gerne und trainiere extrem viel. Da will ich mich doch auch mit den besten Athleten messen. Mit der deutschen Spitze. Und von der springen manche weiter als ich und andere weniger weit. Ich sehe mich als normalen Athleten. Die anderen haben halt ein halbes Bein mehr.

Also geht es nicht darum sich selbst etwas zu beweisen?
Rehm: Überhaupt nicht. Natürlich ist es eine tolle Chance. Aber es geht doch nicht nur um mich, sondern um den Sport und darum, den Leuten zu zeigen, was wir imstande sind zu leisten. Das Wort Behindertensport hat so einen negativen Touch, und es passt auch nicht mehr in die Zeit. Andererseits geht es auch darum, zu sagen, dass das alles nicht so einfach ist.

Inwiefern?
Rehm: Wenn einem Prothesen-Sportler dann eine außergewöhnliche Leistung gelingt, gibt es Stimmen, die reflexartig sagen: Die Prothese bringt ja auch einen Vorteil. Beispiel Oscar Pistorius: Da hat man auf den letzten 100 Metern einen Vorteil, aber am Start und in den Kurven einen großen Nachteil. Das gleicht sich aus. Ich habe ein Ersatzbein, das hoch komplex ist und es kann nicht schneller laufen als mein gesundes Bein - wie auch?

Im letzten Jahr ist der DM-Titel für 8,15 Meter "weggegangen", Sie wären mit Ihrer Weltrekordweite von 7,95 Meter auf dem Bronzeplatz gelandet - wie ist die aktuelle Form?
Rehm: Ich bin in den letzten Wettkämpfen sehr konstant 7,80 Meter gesprungen, ein Sprung war knapp unter Weltrekord. Ich hoffe, ich kann noch etwas draufpacken.

Sie sind Orthopädietechniker-Meister. Tüfteln sie an Ihrem "Sportgerät"?
Rehm: Die Prothese ist seitdem letzten Weltrekord vor eineinhalb Jahren unverändert. Ich habe eine gute Konstruktion gefunden - seitdem trainiere ich nur noch. Ich habe ein gutes Körpergefühl mit der Prothese. Es gibt talentierte Prothesengeher - so blöd das auch klingt, wünscht man ja keinem - und weniger talentierte. Mein zusätzlicher Vorteil ist vielleicht, dass ich Änderungen selbst umsetzen kann und niemandem erklären muss, was ich haben will.

Ein Gehandicapter, der es zur Meisterschaft Nicht-Gehandicapter schafft, hat das Potenzial zur Ikone seiner Sportart. Könnten Sie sich damit anfreunden.
Rehm: Naja. Ich würde es schön finden, wenn man die Aufmerksamkeit nutzen kann. Nicht für mich selbst, sondern für den ganzen Sport. Ich sehe mich da als den Stellvertreter von ganz, ganz vielen anderen.

Denken Sie noch oft an den 10. August 2003, den Tag, an dem der Unfall passierte?
Rehm: Eigentlich nur, wenn ich danach gefragt werde. Ich habe damit abgeschlossen. Ich wäre ohne den Unfall nicht da, wo ich bin. Man muss in der Herausforderung die Chance sehen.

Würden Sie erzählen, was passiert ist?
Rehm: Klar, damit gehe ich offen um. Es war ein schöner Sommerabend beim Campen in Würzburg. Ich wollte noch eine Runde auf dem Main Wakeboarden. Mein Vater saß im Boot und zog mich, ich bin bei einem Sprung gestürzt und ein nachfolgendes Boot ist über mich gefahren. Ich bin in die Schraube geraten. Mein Vater und die anderen im Boot hatten gewunken und versucht, den anderen auf mich aufmerksam zu machen. Vergebens.

Sie erinnern sich sehr genau...
Rehm: Ich weiß jede Sekunde, habe sofort realisiert: Hier ist jetzt ziemliche Scheiße passiert. Erst im Krankenwagen gingen dann die Lichter aus. Zwei Tage später musste das rechte Bein unter dem Knie amputiert werden, das linke hatte es nicht so schlimm erwischt.

Glauben Sie an Gott, Schicksal oder was auch immer Einfluss auf das Leben hat?
Rehm: Schwierig. Vor meinem Unfall war das nie ein Thema für mich. Das erste, was ich gesagt habe - ich weiß es genau - war: Oh Gott. In der Reha hat man dann Zeit nachzudenken. Zentrale Frage: Warum ich? Dann habe ich in der Reha, ziemlich weit weg von zu Hause, einen sehr gläubigen Mann kennengelernt, mit dem ich mich darüber ausgetauscht habe. Der hat mich in seiner Gläubigkeit schon beeindruckt. Und er hat gesagt: Der liebe Gott weiß schon, warum.

Hat er Sie überzeugt?
Rehm: Das hat lange gedauert. Im Nachhinein weiß ich, was er gemeint hat. Ich stehe da, wo ich sonst nie hingekommen wäre. Und dafür bin ich extrem dankbar. Scheint also doch mehr dahinterzustecken.

"Vielleicht wäre ich Pilot geworden, vielleicht Millionär - und unglücklich"

Ist Gott dann auch für den Sport zuständig?
Rehm: Hat bei mir wohl zum "Plan" gehört. Nicht, dass Markus Rehm eine Medaille um den Hals hängen hat, aber dass er durch den Sport wieder Motivation für alles andere gesammelt hat. Ich bin glücklich, so wie es jetzt ist, und mein Bein hört nur ein bisschen früher auf als bei anderen.

Wissen Sie, ob Ihr Vater sich heute über Ihre Erfolge ganz ungetrübt freuen kann?
Rehm: Ich denke ja. Er ist für mich extrem wichtig, eine geerdete, starke Persönlichkeit. Ich habe ihn nie aufgeregt erlebt. Außer an diesem einen Tag. Wir sind uns durch diese Situation noch näher gekommen. Er freut sich - wie die ganze Familie - sehr über meine Erfolge. Obwohl dafür passieren musste, was passiert ist. Das kommt natürlich hoch, wenn die Nationalhymne gespielt und die Flagge hochgezogen wird. Mag sein, dass der Moment noch emotionaler ist, als bei manch anderem. Da muss ich auch jetzt, ehrlich gesagt, schlucken.

Denken Sie noch manchmal: "Was wäre gewesen, wenn..."?
Rehm: Nein - auch nur, wenn ich gefragt werde. Es ist, wie es ist. Vielleicht wäre ich Pilot geworden, vielleicht Millionär - und unglücklich. Ich bin wirklich sehr zufrieden, wie es ist. Es gibt Menschen, die haben ganz andere Probleme.

Zur Person

Markus Rehm wurde am 22. August 1988 in Göppingen geboren. Mit 14 Jahren verlor er infolge eines Unfalls den rechten Unterschenkel. 2012 holte er bei den Paralympics in London Gold im Weitsprung und Bronze mit der 4x100-Meter-Staffel. Mit 7,95 Metern hält der Athlet von Bayer Leverkusen, den die Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius trainiert, den Weitsprung-Weltrekord. Der Orthopädietechniker-Meister arbeitet in Troisdorf.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Berechtigte Ausgrenzung
Kein Platz für Müller im DFB-Team Berechtigte Ausgrenzung
Aus dem Ressort