Interview mit Steffi Nerius vor den Paralympics "Die Einstellung, nicht aufzugeben, ist beispielhaft"

Die frühere Speerwerferin Steffi Nerius über ihren Trainerjob bei den Paralympics und die Entwicklung des Behindertensports. Mit ihr sprach Joachim Schmidt.

 Steffi Nerius (rechts) mit der früheren Diskus-Olympiasiegerin Ilke Wyludda, die nach einer Unterschenkel-Amputation an den Paralympics in London teilnimmt.

Steffi Nerius (rechts) mit der früheren Diskus-Olympiasiegerin Ilke Wyludda, die nach einer Unterschenkel-Amputation an den Paralympics in London teilnimmt.

Frau Nerius, vor vier Jahren waren Sie bei Olympia selbst noch aktiv, nun nehmen Sie wie vor acht Jahren in Athen als Trainerin an den Paralympics teil. Mit welchen Gefühlen sind Sie jetzt nach London gereist?
Steffi Nerius: Ich freue mich, erstmals von der Eröffnungs- bis zur Schlussfeier dabei zu sein und das Leben im Athleten-Dorf täglich mitzuerleben. Daneben werde ich während der gesamten Dauer für eine ganze Reihe von Aktiven im Einsatz sein. Da gibt es viel zu tun.

Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen den Paralympics und Olympia?
Nerius: Damals in Athen war das Zuschauerinteresse sehr gering. Bei den Olympischen Spielen war das Stadion immer ausverkauft, bei den Paralympischen Spielen war praktisch niemand da. Deshalb hat man schließlich Kinder ins Stadion gebracht, um wenigstens ein paar Plätze zu besetzen. Das wird jetzt in London sicher anders sein.

Seit zehn Jahren sind Sie im Behindertensport als Trainerin aktiv. Wie kam es dazu?
Nerius: Ich habe 1998 in Köln mein Studium für Rehabilitation und Behindertensport abgeschlossen und anschließend vier Jahre lang bei einer ambulanten Reha-Praxis mit Herz- und Dialyse-Patienten gearbeitet. 2002 bewarb ich mich erfolgreich als Trainerin im Behindertenbereich bei meinem Verein Bayer Leverkusen. Bis 2009 habe ich ja noch weiter den Leistungssport betrieben, wobei sich das Speerwerfen und die damalige Halbtagsstelle gut vereinbaren ließen. Seither arbeite ich mit großer Freude in Vollzeit. Den Speer packe ich nur noch im Training an, unter anderem, wenn ich vom nächsten Jahr an als Bundestrainerin im Nachwuchsbereich tätig sein werde. Vor allem aber sind der Behindertensport und die Rehabilitation, die eine schöne Symbiose eingehen, für mich zur Berufung geworden.

Was macht den Reiz aus?
Nerius: Der Leistungssportgedanke. Ich bin damit groß geworden, immer am Leistungslimit zu arbeiten und Druck zu haben. Deshalb macht es mir Spaß, mit meinen Athleten an einem Strang zu ziehen.

Gibt es in Leverkusen gemeinsame Trainingseinheiten von behinderten und nichtbehinderten Sportlern?
Nerius: Das ergibt sich bei der täglichen Arbeit, ohne dass es geplant wäre. Das ist ein natürliches Miteinander und deshalb auch so unkompliziert und in hohem Maße integrativ, was im Verein großgeschrieben wird.

Was können Nichtbehinderte von Ihren Schützlingen lernen?
Nerius: Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie sich Menschen nach schweren Schicksalsschlägen, wenn sie beispielsweise durch einen Unfall Gliedmaße verloren haben, wieder aufrappeln und im Sport Höchstleistungen vollbringen. Diese Einstellung, nicht aufzugeben, nach vorne zu schauen, ist beispielhaft.

Eine frühere Kollegin von Ihnen ist als Aktive in London dabei. Ilke Wyludda, 1996 Diskuswurf-Olympiasiegerin, wurde vor einem Jahr der rechte Unterschenkel wegen einer bakteriellen Entzündung amputiert. Auch so ein Schicksalsschlag.
Nerius: Da sieht man, wie schnell es gehen kann. Doch auch Ilke zeigt jetzt ihre Kämpfernatur, setzt sich neue Ziele, trainiert fleißig wie früher. So hat sie eine neue Motivation für ihr Leben gefunden. Allerdings fängt sie sportlich bei Null an. Zum einen hat sie jahrelang keinen Sport betrieben, zum anderen wirft sie den Diskus und stößt die Kugel aus dem Sitzen. Das sind ganz andere Bewegungsabläufe.

Sie engagieren sich auch über den Sport hinaus, haben den Förderverein "aclive" gegründet.Nerius: Ja, als ich 2002 anfing, habe ich gesehen, dass die Entwicklung im Behindertensport sensationell voran geht. Unsere Top-Athleten können beispielsweise zum Teil vom Verein finanziert werden. Deshalb suchte ich Leute, die die jungen Sportler unterstützen. Sie können gezielt in die Spitze geführt werden. Es ist schön zu sehen, dass nun nicht mehr allein das Zufalls-Prinzip Top-Athleten beschert.

Wie schwierig ist es, Geldgeber zu finden?
Nerius: Ich habe inzwischen die Erfahrung gemacht, dass es einfacher ist, im Behindertenbereich solche Förderer zu finden. Viele Betriebe und Unternehmen haben Extra-Budgets für solche Zwecke. Da stehen mehr Gelder zur Verfügung, als wenn ich zum Beispiel für eine nicht behinderte Nachwuchsgruppe in der Leichtathletik sammeln würde. Ich kann mich aktuell nicht beklagen, aber natürlich gibt es immer Möglichkeiten zur Verbesserung.

Seitens des Deutschen Behindertensportverbandes wird dagegen immer wieder die Finanzmisere beklagt.
Nerius: Wenn ich sehe, wie positiv sich der Behindertensport in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, ist das enorm. Das sollte man sich immer vor Augen führen. Natürlich bin ich darauf aus, die Möglichkeiten und Perspektiven stetig zu verbessern. Ich bin der Meinung, dass es schwierig ist, finanzielle Vergleiche mit den Einnahmen eines Olympiasiegers anzustellen. Ich habe mich auch nie mit dem verglichen, was ein Fußballprofi erhält.

Zur Person: Steffi Nerius wurde 1972 auf Rügen geboren. Sie begann als Volleyballspielerin und wandte sich dann dem Speerwurf zu. 1991 wechselte sie von Rostock nach Leverkusen. Ihre größten Erfolge gelangen ihr in der zweiten Karrierehälfte. 2004 in Athen gewann sie olympisches Silber. 2006 wurde sie Europameisterin, 2009 Weltmeisterin.

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