Dieter Baumann Freispruch des 5000-Meter-Olympiasiegers wäre heute möglich

BONN · Es war ein kalter Novembertag vor ziemlich genau 15 Jahren. Keiner von der grauen Sorte, derer es so viele gibt in diesem dunklen Monat. Viele werden noch genau wissen, wo sie waren, als sie die Nachricht hörten, die den deutschen Sport erschütterte.

 Dieter Baumann bei seinem Olympiasieg in Barcelona.

Dieter Baumann bei seinem Olympiasieg in Barcelona.

Foto: dpa

Ähnlich, wie jeder große Sportfreund sich daran erinnert, an welchem Ort und mit welchen Menschen er die WM-Finalsiege deutscher Fußball-Nationalteams erlebt hat - und viele auch, unter welchen Umständen sie Dieter Baumanns Olympiasieg erlebten.

Unvergessen ist, wie er 1992 mit weit aufgerissenen Augen in Barcelona zur Goldmedaille über 5000 Meter stürmte - der daraufhin so getaufte "weiße Kenianer" von der Schwäbischen Alb, der all die hochgewetteten Afrikaner hinter sich ließ. Ein Naturbursche. Doch jener eingangs erwähnte Spätherbst-Tag, genauer der 19. November 1999, er brachte eine schier unglaubliche Nachricht, die für verbliebene Idealisten die heile Welt des Sports für immer zusammenbrechen ließ.

Dieter Baumann positiv? Nicht möglich. Ein Alptraum? Nein, Realität. Die bösen Buben, das waren Kraftmeier und Sprint-Monster, allen voran der wegen Anabolika-Dopings bestrafte Kanadier Ben Johnson. Die kurz nach der Wende als Sprint-Königin vergötterte Katrin Krabbe hatte im Zuge ihrer Dopingaffäre Anfang der 90er Jahre ihre Glaubwürdigkeit verspielt, und bei der rassigen Florence Griffith-Joyner (ihr 100-m-Weltrekord steht seit 1988 bei 10,49 Sekunden) hatte man wegen des flaumigen Damenbarts gemunkelt.

Doch nun war aus dem deutschen Vorläufer mit einem Schlag der "Zahnpasta-Man" geworden, so wie sich Baumann ein Jahrzehnt später selbst bei Kabarett-Auftritten parodiert. Das Funktionärsparkett war dem eloquenten Schwaben zugetraut worden, etwa als Präsident dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) Impulse zu geben. Stattdessen hat Baumann in der Nach-Karriere-Zeit die Show-Bühne entdeckt. Er macht Kleinkunst. Schon während seiner Laufbahn war er durch komödiantisches Talent aufgefallen.

Baumann, der Schauspieler. Für seine Kritiker ein Argument mehr, ihn auch in der Zahnpasta-Affäre als Missetäter zu sehen und seine Verschwörungstheorie, jemand habe ihn etwas in das Mundreinigungsmittel gemischt, als Lachnummer abzutun. Wilhelm Schänzer kann es 15 Jahre später immer noch nicht nach Lachen zumute sein, wenn er an den Fall Baumann denkt. Seit 1995 und auch heute noch ist er Leiter des Kölner Dopingkontroll-Labors, seine Kompetenz und seine Unabhängigkeit sind unbestritten.

Einen vergleichbaren Fall hat er nicht erlebt. Schänzer glaubte der Unschuldstheorie Baumanns und begab sich damit aufs Glatteis. Er, der Neutrale, stellte Untersuchungen an, um Baumann zu entlasten. Irgendwie verständlich, denn aufgrund der Vielzahl von Kontrollen wären dem akribischen Analytiker Unregelmäßigkeiten auch in anderen Proben des Langstrecklers sicherlich aufgefallen.

In Baumanns Wohnung in Tübingen fand Schänzer Zahnpasta mit Abbauprodukten des anabolen Steroids Nandrolon. Und damit eine mögliche Ursache der positiven Dopingkontrolle - gleichbedeutend mit einem ernsthaften Indiz für Fremdverschulden. Am 2. Dezember 1999 erstattete Baumann "Anzeige gegen Unbekannt", suchte fieberhaft nach einem Saboteur, setzte im Januar 2000 sogar 100.000 Mark Belohnung für Hinweise auf den Täter aus. Alles Show?

Sein 2011 verstorbener Erzrivale Stephane Franke geriert ins Fadenkreuz, weil er im fraglichen Zeitraum mit Baumann zusammen im Höhentrainingslager gewesen und Zugang zu dessen Wohnung gehabt hatte. Ein Kriminalstück par excellence, von der ARD verfilmt und 2004 im deutschen Fernsehen zu sehen.

Eine Aufklärung gibt es im Film wie im wahren Leben nicht. Um die Sperre von zwei Jahren kam Baumann nicht herum - trotz eines anfänglichen Freispruchs durch den DLV. Dann sperrte ihn der Weltverband IAAF während Olympia in Sydney, später bestätigt durch den Internationalen Sportgerichtshof CAS.

Vor dem Hintergrund der gerade reduzierten Sperre von Biathletin Evi Sachenbacher-Stehle stellt sich jetzt die Frage, ob Baumann trotz der erheblichen Zweifel an seiner Schuld heutzutage genauso bestraft würde. Wie damals gilt aktuell: Jeder Athlet ist allein verantwortlich für das, was in seinem Körper gefunden wird. "Strict liability" heißt dieser Grundsatz im internationalen Fachjargon. "Die strict liabiltity ist nach wie vor das zentrale Prinzip des Welt-Anti-Doping-Codes", sagt Lars Mortsiefer, Vorstandsmitglied und Chefjustiziar der Nationalen Anti Doping Agentur (Nada).

Also alles wie damals? Wäre Baumann der Sportjustiz genauso chancenlos ausgeliefert? Zu deren Spielball wurde der Schwabe in einer Ära, in der das Dopingkontrollsystem noch bei weitem nicht so ausgereift war wie 2014. Die Welt Anti Doping Agentur (Wada) war kurioserweise erst just im Monat von Baumanns Positivprobe gegründet worden, seit 2002 erst gibt es in Deutschland den nationalen Ableger mit Sitz in Bonn.

Differenzierter würde der Fall Baumann heute sicherlich betrachtet. "Die Bewertung des Verhaltens eines Athleten spielt eine größere Rolle", erklärte Mortsiefer gestern auf Anfrage dieser Zeitung: "Fahrlässigkeit, wie zum Beispiel im Fall Sachenbacher-Stehle, spielt eine größere Rolle." Es gebe mehr Möglichkeiten, die Umstände einer positiven Kontrolle und die Glaubwürdigkeit eines Sportlers in der Sanktionsbegründung zu berücksichtigen - erstmals verankert im Wada-Code 2009. Für die Neuauflage 2015 wurde der Passus fortentwickelt.

"Selbstverständlich wollen wir Klarheit haben, aber kein Schema F drüberlegen", so Mortsiefer, der glaubt, "dass inzwischen jeder Einzelfall gerechter bewertet werden kann". Im Fall von Sachenbacher-Stehle, deren positive Probe mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Nahrungsergänzungsmittel zurückzuführen ist, wurde die naive Herangehensweise der Athletin berücksichtigt. Motto: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, wirkt aber strafmindernd.

Beispiele differenzierter Sportgerichtsurteile gibt es: Weil der Tischtennis-Olympiadritte Dimitrij Ovtcharov glaubhaft nachwies, dass seine überhöhten Clenbuterol-Werte vom Verzehr verseuchten Rindfleischs in China herrührten, wurde er 2011 freigesprochen. Radprofi Alberto Contador erklärte überhöhte Clenbuterol-Werte mit dem Verzehr von Rindfleisch, das er bei einem baskischen Metzger gekauft habe. Dem Tour-de-France-Sieger glaubten die CAS-Richter nicht, seine Sperre: zwei Jahre.

2014 hätte Dieter Baumann bessere Chancen auf einen Freispruch oder eine kürzere Sperre. Ob anders entschieden würde als zur Jahrtausendwende, hinge von Indizien und - mehr als damals - von seiner Überzeugungskraft ab.

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