Leichtathletik "Die DM war irregulär"

NÜRNBERG · Der Aufreger von Nürnberg war nicht Prothesenspringer Rehm, sondern eine untaugliche Wettkampfanlage. Der Leverkusener Trainer Thomaskamp klagt an.

 Große Kulisse, großer Missmut: der Leverkusener Alyn Camara auf dem Nürnberger Hauptmarkt.

Große Kulisse, großer Missmut: der Leverkusener Alyn Camara auf dem Nürnberger Hauptmarkt.

Foto: dpa

Eine Boulevard-Schlagzeile vom vermeintlich feigen Protest nichtbehinderter Athleten gegen Paralympics-Sieger Markus Rehm sorgte für so große Entrüstung im Lager der deutschen Leichtathleten, dass Cheftrainer Idriss Gonschinska sich zwei Tage nach dem stimmungsvollen Weitsprung-Event der deutschen Meisterschaften unaufgefordert ereiferte. "Es gibt keine Feiglinge in unserem Team", stellte Gonschinska am Sonntagabend fest. Sollte heißen: Die öffentliche Inklusionsdebatte, entzündet am DM-Start des weltweit überragenden Prothesenspringers, ist keine innerhalb des Teams. Rehm ist akzeptiert, mit der aktuellen Lösung einer gesonderten Wertung können alle gut leben.

Dabei kam den Machern des Events, das 5000 Zuschauer auf mobilen Tribünen auf dem Nürnberger Hauptmarkt begeisterte, der Nebenkriegsschauplatz nicht ungelegen. Er lenkte von einem Aufreger ab, der Athleten und Trainer seit einem halben Jahr erzürnt. Anlass der Verärgerung: Die ausgerechnet bei der finalen WM-Qualifikationschance für Peking (22. bis 30. August) befürchteten irregulären Bedingungen. Sie traten ein - und offenbar nicht erst im letzten der sechs Durchgänge, vor dem der Unterbau des Sprungbretts komplett durchgebrochen war. Die Reparatur erfolgte notdürftig.

In der Weitspringer-Szene waren die Bedenken schon zuvor gewaltig. Und die Debatte danach intensiv. "Wir haben anschließend mit den Trainern diskutiert", räumte Veranstaltungsdirektor Frank Kowalski am Montag ein. Für den Fall einer Wiederholung werde das Sprungbrettmodul "acht Wochen vorher in Beton gegossen".

Keine Neuauflage

Doch die Neuauflage im Weitsprung wird es bei einer Meisterschaft nach den Vorstellungen der sportfachlich Verantwortlichen nicht geben. Bundestrainer Uli Knapp zeigte sich erleichtert, dass alles glimpflich abgelaufen war. Scharfe Kritik spiegelt jedoch ein vertraulicher Schriftwechsel, der dem General-Anzeiger vorliegt und an dem inklusive Knapp ein Dutzend Coaches beteiligt waren.

Zum Durchbrechen des Bretts sagte Hans-Jörg Thomaskamp, der den Mailwechsel bestätigte: "Das war mit Ansage." Irregulär sei der Wettbewerb bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt gewesen, so der Leistungssportkoordinator am Bundesstützpunkt Köln-Leverkusen. "Schon nach dem ersten Durchgang war die erste Schweißnaht durch, beim dritten die zweite, danach waren es keine regulären Bedingungen mehr", sagte Thomaskamp.

Die stark nachlassenden Weiten aller Springer belegen dies. Thomaskamps Schützling Alyn Camara kam nicht in die Nähe seiner 7,97 Meter aus dem ersten Versuch, Sieger Fabian Heinle aus Tübingen nicht mehr an seine 8,03 aus Durchgang zwei.

"Niemand hat antizipiert, dass es passieren kann"

Aus Sicht von Kowalski, der ab 1. August als Geschäftsführer der Veranstaltungs-GmbH die EM 2018 in Berlin vorbereitet, war das Problem nicht absehbar. "Niemand hat antizipiert, dass es passieren kann", sagte der Marketingexperte. Die Trainer aber hatten es ein halbes Jahr zuvor geahnt. "Man muss davon ausgehen, dass es ... nicht möglich sein wird, bestmögliche Weiten zu erzielen", hieß es in einer E-Mail in Trainerkreisen vom 30. Januar 2015. Und: "Die Athleten sollen Weltklasseweiten produzieren, die zu Qualifikationen reichen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist gering, denn die Gegebenheiten ... widersprechen einfachen physikalischen Gesetzmäßigkeiten."

Es war absehbar, dass ein nicht fest verankertes Brett die pro Sprung auftretende Belastung von rund 10 Tonnen keine zwei Wettkämpfe lang aushält - nach den 60 Sprüngen der Frauen also bereits das Gewicht von mehr als zwei Dutzend schwer beladener Lkws. Die Männer besorgten den Rest.

Keine Auswirkungen auf WM-Nominierung

Der große Aufschrei blieb aus, weil das DM-Ergebnis keine Auswirkungen auf die WM-Nominierung hat. Die Norm (8,15) hatten Heinle und Camara schon erfüllt. 20 bis 30 Zentimeter kostete die Anlage nach Trainermeinungen. Hinter allem steht die Frage, wie sehr sich die olympische Kernsportart verändern muss, um in der Gunst des Publikums Boden gutzumachen.

Vermarktungsaspekte und sportliche Interessen sind dabei nicht immer zu vereinbaren. "Es geht um Werbung für die Leichtathletik", findet Kowalski, der sich durch eine Innenstadt-Ouvertüre kurzfristige Impulse für den Ticketverkauf erhofft. Thomaskamp sagt "Ja zu derlei Show, aber bei einer Meisterschaft bitte nicht".

2014 begeisterten die Kugelstoßer in Ulms Innenstadt, bei der DM 2016 in Kassel soll es erneut einen ausgelagerten Wettbewerb geben. Wieder Weitsprung? "Absolut nein", sagt Kowalski, "aber nicht wegen des weggebrochenen Bretts, sondern weil wir jedes Jahr wechseln." Stabhochsprung wäre perfekt, in dieser Disziplin gibt es jahrelange gute Erfahrungen durch Marktplatzspringen. Jedenfalls sollte im Jahr der Olympiaqualifikation das Risiko irregulärer Bedingungen minimiert werden. Der erhoffte Werbeeffekt könnte sonst ins Gegenteil umschlagen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Berechtigte Ausgrenzung
Kein Platz für Müller im DFB-Team Berechtigte Ausgrenzung
Aus dem Ressort