Interview mit Heike Henkel und Paul Meier Reformieren durch reduzieren

Köln · Die ehemaligen Leichtathleten Paul Meier und Heike Henkel erzählen im GA-Interview von ihren emotionalen Höhenpunkten, sprechen über die Glaubwürdigkeit des Sports und verraten, ob sie noch an die Olympische Idee glauben.

Interview mit Heike Henkel und Paul Meier: Reformieren durch reduzieren
Foto: Gladys Chai von der Laage

Am Rande von Pulheim, halb im Grünen. Eine ganz normale Wohngegend nördlich von Köln, kein Nobelviertel. Hier wohnen Heike Henkel und Paul Meier. In den 1990er Jahren waren sie Sportidole, Hochspringerin Henkel wurde 1992 als Welt-Leichtathletin ausgezeichnet. Das schaffte aus Deutschland außer ihr nur Katrin Krabbe (1991). Im Gegensatz zu der später wegen Dopings gesperrten Sprinterin verkörpert Henkel in den Augen vieler den Glauben daran, dass es auch bei Olympia saubere Sieger gibt - wie Ex-Zehnkämpfer Meier, mit dem sie seit 2004 verheiratet ist. Auf die Bitte von Berthold Mertes wird der Schuhkarton mit den Medaillen aus dem Keller gekramt. Beide erzählen über emotionale Höhepunkte ihrer Karrieren - für Henkel überraschenderweise nicht der Olympiasieg von Barcelona. Diskutieren mit dem GA-Sportchef über die Glaubwürdigkeitskrise des Sports. Und verraten, ob sie noch an die Olympische Idee glauben.

Heike, was gefällt Ihnen am Zehnkampf?

Heike Henkel: Die Männer. Sie lacht und schaut zu Paul Meier.

Heike Henkel und Paul Meier
12 Bilder

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Henkel: Die Spannung macht den Reiz aus: Die Athleten haben die Möglichkeit, wenn es in einer Disziplin nicht geklappt hat, das in einer anderen gutzumachen. Ich schaue natürlich am liebsten den Hochsprung, aber auch Stabhochsprung. Da hattest du doch immer ein paar Schwierigkeiten, Paul, oder?

Meier: Stimmt.

Paul, was gefällt Ihnen am Hochsprung?

Meier: Die Frauen selbstverständlich.

Was noch?

Meier: Die Eleganz der Bewegung – bei den Frauen tatsächlich noch mehr als bei den Männern. Und ich finde, dass Heike am schönsten gesprungen ist von allen – das sage ich wirklich nicht, weil sie meine Frau ist. Das Verblüffende ist, wie Topathleten die enorme Energie mit dieser Eleganz in Höhe umsetzen kann. Früher gab es zudem Dietmar Mögenburg, Carlo Thränhardt - diese Typen, so dass ich Hochsprung immer faszinierend fand.

In den 1970er und 1980er Jahren war Leichtathletik in der Wahrnehmung vieler Deutscher die Sportart Nummer zwei nach Fußball. Warum hat sie seither kontinuierlich an Anziehungskraft verloren?

Meier: Ich glaube, die Leichtathletik ist zu breit angelegt, zu unübersichtlich. Das wurde früher anders empfunden, weil es nicht so viele Sportarten gab. Und nicht so viele Quellen, um Sport zu konsumieren.

Henkel: Wenn die Leichtathletik meint, sie könnte so bleiben, wie sie vor 20 Jahren war, dann passt es nicht mehr in unsere Zeit.

Nur am Rande wahrgenommen, fand letzte Woche eine EM in Amsterdam statt ...

Henkel: Ich frage mich, was diese EM soll – einige Asse fehlten, wie Robert Harting. Im Olympiajahr verzichtet man besser darauf.

Meier: Die Vielzahl der Wettkämpfe führt zu Beliebigkeit. Ich fand gut, als es nur alle vier Jahre eine Europameisterschaft gab. Da hatte sie einen hören Stellenwert. Jetzt, eingequetscht zwischen Fußball-EM und Olympia, ist sie ziemlich untergegangen.

Wie würden Sie die Sportart reformieren?

Meier: Durch Reduzierung. Wir brauchen weder im Sprint noch im Lauf alle Strecken. Mich interessiert, wer der schnellste Mensch der Welt ist. Muss der dann auch 200 Meter laufen? In 90 Prozent der Fälle ist es derselbe Sieger, eben der schnellster Mensch der Welt. Das ist die Botschaft.

Henkel: Ich denke genauso: Es gibt den Weitsprung, warum brauche ich unbedingt noch Dreisprung? Oder zum Beispiel die 800 und 1500 Meter?

Meier: Auch wenn es schwierig ist, einem leidenschaftlichen 800-Meter-Läufer zu sagen: Sorry, deine Disziplin gibt es nicht mehr. Aber genau das ist die Aufgabe der Sportorganisationen. Die Verantwortung, den Sport attraktiv zu machen.

Ihr konkreter Vorschlag?

Meier: 100 Meter, 400 Meter, die Meile, 10 Kilometer und Marathon würden zum Beispiel als Laufdisziplinen ausreichen.

Henkel: Eine WM müsste auch nicht neun Tage dauern. Man könnte den Wettkampfkalender so aufbauen, dass er auf eine WM als Höhepunkt hinausläuft, man Usain Bolt aber vielleicht fünfmal vorher in der Saison laufen sieht. Die Leichtathletik verkauft sich nicht clever.

Ist der Olympischen Sport nach all den Doping- und Korruptionsskandalen der letzten Jahre überhaupt noch zu retten?

Meier: Ich bin fest davon überzeugt, dass die olympische Idee weiter trägt. Daran ist so viel Magisches. Sport ist nach wie vor eine der wenigen Inseln, auf denen die Welt es schafft, sich den gleichen Regeln zu unterwerfen. Klar, sie werden auch gebrochen, siehe Doping, und dennoch machen es alle weltweit nach denselben, akzeptierten Regeln.

Was denken Sie, Heike?

Henkel: Das glaube ich auch. Die Olympische Idee ist so stark verwurzelt in der Welt, dass sie Bestand haben wird. Es muss ja nicht alles so gigantisch wie in der jüngeren Vergangenheit sein. Weniger ist oft mehr.

Wie kann es sein, dass heutzutage keine Hochspringerin sich im Bereich Ihres damaligen Hallenweltrekordes von 2,07 Meter bewegt?

Henkel: Sprünge um die 2,07m waren auch damals keine Regel. Generell fehlen glaube ich die Athletinnen, die sich für Hochsprung entscheiden und sich mit Geduld darauf einlassen. Andere Disziplinen sind aus deren Sicht vielleicht einfacher und man kommt schneller zum Erfolg.

Bei der Bulgarin Stefka Kostadinowa, die seit 1987 mit 2,09 Meter den Freiluft-Weltrekord hält, wurde Leistungsmanipulation vermutet. Und Sie waren sauber?

Henkel: Natürlich. Es war für mich total absurd, ich wäre nie auf die Idee gekommen, zu dopen. Ich lehne jeglichen, auch erlaubte leistungssteigernde Mittel für mich ab. Für mich ist schon eine Grenze überschritten, wenn ein Athlet sagt: ‚Das steht nicht auf der Liste, also darf ich.‘ Es sollte jeder Athlet darüber nachdenken, ob er für den Erfolg seine Selbstachtung aufgibt.

Sie beide haben noch die Zeiten der DDR-Nationalmannschaft erlebt. Wie gut funktionierte die Vereinigung vor 25 Jahren aus Ihrer Sicht?

Meier: Unter den Sportlern unglaublich schnell, unkompliziert und geräuschlos. Für mich ist es das faszinierende überhaupt am Sport: Was die Welt in vielen Bereichen nicht schafft, gelingt im Sport trotz aller Probleme: sich auf dieselben Regeln zu verständigen. Für mich war das kein großes Ding. Wir waren auf einmal eine große Mannschaft.

Henkel: Ein bisschen fühlte man sich, als wenn man als Westler in die DDR-Mannschaft integriert würde. Weil die ja wesentlich erfolgreicher war. Das war aber kein Problem.

Das Trikot mussten die anderen wechseln, Hammer und Zirkel wichen dem Bundesadler.

Henkel: Für einige Athleten aus dem Osten war es wohl schwieriger. Wie alle DDR-Bürger wussten sie nicht, wie es für sie weitergehen würde.

Die Vorbehalte gegenüber den DDR-Sportlern müssen wegen des dortigen Staatsdopings damals vergleichbar gewesen sein mit dem heutigen Generalverdacht gegenüber russischen Athleten, oder?

Henkel: Natürlich gab es Vorbehalte. Aber es wurde relativ schnell ehrlich darüber gesprochen, zumindest im Hochsprungbereich. Angesichts der wirksameren Kontrolle war es unwahrscheinlich, dass es so weitergeht. Und die meisten Athleten haben dann damit abgeschlossen.

Nach Ihrer Kür zur Welt-Leichtathletin bezeichneten Sie „eine Leichtathletik ohne Doping“ als innigsten Wunsch. Das spielte auf die deutschen Missstände in jenen Jahren an.

Henkel: Ja, es wurde öffentlich bekannt, dass in der DDR systematisch gedopt wurde. Und einige Athleten, wie Katrin Krabbe wollten so weitermachen. Ich wollte aber damals wie heute Leistung ohne Betrug und Manipulation, mal von den gesundheitlichen, unverantwortlichen Aspekten abgesehen.

Wie wichtig ist Ihnen sauberer Sport, Paul?

Meier: Extrem wichtig, ich hätte es mir nicht anders vorstellen können. Ich bin sauber in Bereiche vorgestoßen, die mich glauben lassen, dass man auch sauber sehr weit kommen kann. Für den Zehnkampf weiß ich genau: Es ist deutlich mehr möglich als die 8548 Punkte von Paul Meier. Denn ich bin sicher nicht das größte Talent, das es jemals gab.

Mit der genannten Leistung wurden Sie 1993 WM-Dritter in Stuttgart – sind Sie sicher, ob Silber und Gold damals sauber waren?

Meier: Ich weiß es nicht. Aber ich war sauber und habe diese Punktzahl erreicht. Das erfüllt mich heute mit Zufriedenheit. Wer betrogen hat, muss seinem Spiegel erklären, ob er stolz auf seine sportlichen Leistung sein kann. Mir war immer wichtig zu wissen, welche Grenze hat Paul Meier. Und nicht Paul Meier plus Medikament X, Y oder Z.

Was sagen Sie Menschen, die diese Einstellung wirklichkeitsfremd nennen?

Meier: Dass sauberer Sport der Kern des Sports ist. Wenn das Fair Play ad absurdum geführt wird, dann geht die Seele des Sports verloren, das spüren im Moment glaube ich alle.

Henkel: Keiner weiß mehr, welche Leistung er überhaupt glauben kann. Wenn der Sport das nicht im Griff bekommt, wird es schwierig.

Sind die Dopingkontrollen nicht effektiv genug?

Meier: Es wird viel zu viel über Verhinderung, Kontrolle und Nachverfolgung gesprochen und viel zu wenig darüber, wieso, weshalb und warum gedopt wird. Es geht nicht nur um die gesundheitlichen Schäden, sondern um den Kern des Sports.

Der materielle Benefit ist für Athleten aus der Dritten Welt ein großer Anreiz, zu verbotenen Mitteln zu greifen. Wie beurteilen Sie das?

Meier: Ich habe Verständnis für Menschen, die aus sehr armen Verhältnissen kommen und sagen: ‘Das ist mein Anker. Den werfe ich, um mich aus dem Sumpf zu ziehen.‘ Trotz der gesundheitlichen Risiken und der Gefahr, gesperrt zu werden. Ich hatte auch Mitbewerber, die mir nach den Wettkämpfen gesagt haben, dass sie es tun. Ich konnte aber keinem böse sein, weil ich gesehen habe, aus welchen armen Verhältnissen und mit welcher Motivationslage sie in den Sport gehen.

Henkel: Das ist eine Erklärung, darf aber keine Rechtfertigung sein. So ist es auch mit Russland: Für die Athleten ist es die einzige Möglichkeit, aus dem Land zu kommen, die Welt zu sehen, eine Existenz aufzubauen.

Haben für Sie damals materielle Anreize eine Rolle gespielt?

Henkel: Nein. Das hat mich nicht angespornt, obwohl es Prämien und Antrittsgelder auch damals gab. Aber damit wollte ich mich nicht befassen. Ich hab jetzt auch gelernt, dass diese Gedanken sich negativ auswirken.

Wodurch?

Henkel: Durch meine Ausbildung zum Mentalcoach. Die Praxis kannte ich ja schon, ich wollte aber auch den theoretischen Hintergrund haben. Früher wusste ich nicht, dass das eine Technik ist, ich habe es einfach intuitiv richtig gemacht. Inzwischen berate ich ein paar Leichtathleten und kann mir vorstellen, das auch in anderen Bereichen zu tun.

Was meinen Sie: Sollen Russlands und Kenias Leichtathleten in Rio nur zuschauen?

Meier: So sehe ich es.

Henkel: Grundsätzlich ja, obwohl es den einen oder anderen gibt, der sauber ist.

Meier: Dieses Argument zählt für mich nicht. Ich muss auch von einer Athletenschaft erwarten, dass sie sagt: ‚Mit diesem System will ich nicht mehr leben. Wir müssen eine Stimme haben.‘ Das mag in Russland deutlich schwieriger sein als bei uns, weil die Meinungsfreiheit dort nicht gewährleistet ist. Es ändert sich aber nur etwas, wenn es in dem Land selbst eine Bewegung gibt. Wenn die Beweislage zeigt, dass es sich um staatlich organisiertes Doping handelt, dann muss konsequent reagiert werden.

Auch mittels Sippenhaft?

Meier: Das ist hart, aber vielleicht genau der Schlüssel, damit nicht mehr alle mitmachen.

Sie sind schon Zehnkampf-Präsident – kommt für Sie eine Funktionärslaufbahn in Frage?

Meier: Es gab den einen oder anderen DLV-Vorstoß, aber beruflich bedingt kann ich nicht die notwendige Zeit aufbringen. Ich könnte mir das aber vorstellen, weil die Leichtathletik Reformbedarf hat und sie immer noch meine Herzensangelegenheit ist.

Ihre Erfolge liegen schon fast ein Vierteljahrhundert zurück. Wenn Sie an Ihren Olympiasieg von Barcelona denken, läuft Ihnen doch bestimmt heute noch eine Gänsehaut den Rücken hinunter, Heike - oder?

Henkel: Die olympische Goldmedaille war vorbereitet, und der Wunsch dort zu gewinnen sehr stark. Dann habe ich auf dem Treppchen gestanden und gedacht, wann kommen denn jetzt die Tränen. Aber sie kamen nicht. Ich war einfach nur erledigt und geschafft.

Trotz des wertvollsten Sieges war es also nicht Ihr emotionalster Wettkampf?

Henkel: Ich habe vorhin überlegt, als wir über die 2,07 Meter sprachen. Das war bei deutschen Hallenmeisterschaften und ich hatte keinesfalls vor, einen Rekord zu springen. Aber ich war gut drauf, und plötzlich lag die Höhe auf – und als ich dann drüber war, das war am emotionalsten. Weil es so unverhofft kam.

Und wann haben die Gefühle Sie übermannt, Paul?

Meier: In Barcelona 1992, als ich aufwachte und realisierte, dass ich zu den besten der Welt gehöre. Nach dem ersten Tag zu führen: Mehr gibt es ja kaum. Der olympische Zehnkampf zählt für mich zu den magischen Sportevents wie die Tour de France oder ein WM-Finale im Fußball.

Im Jahr danach wurden sie in Stuttgart von 50000 Zuschauern für WM-Bronze gefeiert.

Meier: Stuttgart hat mir eine neue Perspektive eröffnet und tiefe Zufriedenheit ausgelöst, weil ein Plan aufging. Für mich war das weniger überschwänglich, weil bewusster erlebbar. Dass ein Stadion den Zehnkampf so gefeiert hat, war natürlich großartig.

Zur Zeit Ihrer größten Erfolge waren Sie noch kein Paar. Aber Notiz haben Sie schon voneinander genommen, oder?

Henkel: Gar nicht. Weil die Zeitpläne bei Olympia und WM ziemlich unterschiedlich waren, sind wir uns nicht über den Weg gelaufen. Wir kannten uns nur flüchtig aus unserem Verein Bayer Leverkusen.

Meier: Ich kannte Heike vor allem als Fan von der Tribüne. Da 1992 in Barcelona der Zehnkampf vorbei war, durfte ich diese magische Viertelstunde mit den Olympiasiegen von Heike und Dieter Baumann live erleben. Eine Sternstunde.

Henkel: Und ich hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass Paul sozusagen Halbzeit-Olympiasieger geworden war.

Und wann hat es gefunkt?

Meier: Bei der Gala zum Sportler des Jahres 1999 in Baden-Baden.

Wer wurde damals ausgezeichnet?

Meier: Keine Ahnung, ich hatte nur Augen für Heike.

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