Live am Ball trotz Sehbehinderung Wenn Fußball gehört wird

LEVERKUSEN · "Eins, zwei, eins, zwei, könnt ihr mich alle hören? Gerd, du auch?" Soundcheck vor einem Bundesliga-Heimspiel von Bayer 04 Leverkusen. Björn Naß überprüft, ob ihn all seine Zuhörer verstehen, sonst bekommen sie nichts mit vom Spiel. Denn nicht alle im Stadion können die Partie mit den Augen verfolgen.

Die Gäste im Blindenblock der BayArena sind auf den Livekommentar des Bad Godesbergers Naß angewiesen, den sie über Kopfhörer wahrnehmen und der mit ihnen in einer Reihe sitzt.

Gerd Stoll ist einer dieser Zuhörer. Seit 1999, dem Jahr, in dem Bayer 04 Leverkusen als erster Bundesligaverein die Hörreportagen für Sehbehinderte einführte, hat er kaum ein Spiel ausgelassen. Die verpassten Meisterschaften sowie die großen Champions-League-Nächte gegen Manchester United und den FC Barcelona hat er dank Naß und seiner Kollegen wahrgenommen. Gelegentlich unternimmt er auch Auswärtsfahrten, denn inzwischen bietet jeder Bundesligaverein Blindenreportagen an.

Naß hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass das so ist. Als bundesweiter Leiter des Sehbehinderten- und Blindenreportagezentrums des Awo-Bundesverbandes leitet er Lehrgänge, um neue Reporter anzulernen, und bespricht mit den Vereinen nötige Infrastrukturmaßnahmen.

Allerdings war nicht jeder Verein auf Anhieb davon begeistert, blinden Fans das Stadionerlebnis zu ermöglichen. So argumentierte der Fanbeauftragte eines Vereins im Südwesten der Fußballlandkarte, dass es in der Region gar keine Sehbehinderten gebe. Doch solche Denkmuster verschwinden langsam. Im Zusammenhang mit der deutschen Bewerbung für die Europameisterschaft 2024 berät Naß die Bundesligisten, damit die Stadien erstmals ein wirklich behindertengerechtes Turnier ermöglichen.

Leverkusen dominiert klar und gewinnt am Ende souverän. Als das Spiel längst entschieden ist, wechselt Trainer Roger Schmidt und nimmt eine Positionsänderung vor. Dabei wird Gerd stutzig und fragt einen Co-Reporter, wer nun welche Position einnimmt. "Du siehst es, deswegen machst du dir vielleicht keine Gedanken darüber. Wenn der Rechtsverteidiger rausgeht und es geht noch einer ins Zentrum, dann ist es ja rechts ein bisschen verwaist. Da würde ich schon ganz gerne wissen, wie die sich da hingestellt haben", sagt Gerd.

Solche Situationen bespricht Björn Naß mit den angehenden Reportern in den Lehrgängen. In Seminarübungen hören sich die Nachwuchskommentatoren frühere Reportagen an, auf einem Flipchart wird die eben gehörte Spielsituation dargestellt. Das wird wiederum mit der realen Spielsituation verglichen.

Seit 2008 kommentiert Naß wie alle Blindenreporter ehrenamtlich. Manchmal müssen die Reporter für diese Leidenschaft auch mal auf eine Geburtstagsfeier oder eine Hochzeit verzichten. Doch für den Godesberger ist es unvorstellbar aufzuhören: "Der Grund ist bis heute derselbe geblieben. Das sind der Gerd und die anderen Stammhörer, mit denen ich einfach unglaublich viel Spaß habe. Die sind einerseits auf dich angewiesen, andererseits bist du aber auch auf sie angewiesen. Dieses Fachsimpeln über Fußball, diese Gemeinschaft, die man da erlebt, das ist schön, das ist einfach sehr, sehr schön", sagt Naß. Nach zwei Minuten vergesse er stets, dass sein Gegenüber blind ist: "Das ist wahre Inklusion, dass du nicht mehr über die Behinderung nachdenkst, sondern über das Gespräch, dass du gerade führst." Und tatsächlich: Nach dem Abpfiff diskutiert Björn Naß noch ausgiebig mit einem Hörer über die vergangenen 90 Minuten.

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