Fan-Krawalle in Köln Wenige prügeln, viele schauen zu

Köln · Eine 30-köpfige Sonderkommission der Polizei ermittelt nachden Fan-Krawallen vom Rudolfplatz. Die Ultragruppierungen "Boyz" und "Desperados" stehen im Visier der Beamten.

Mehr als 20 Jahre ist es her, da musizierten Wolfgang Niedeckens BAP und die Kölner Arsch-huh-AG auf dem Chlodwigplatz, um ein Zeichen gegen Rassismus und Neonazis zu setzen. Fast 100.000 Menschen drängten sich durch die Kölner Südstadt, nicht zuletzt, um gegen Gewalt zu demonstrieren.

Nach den Fan-Krawallen vom Rudolfplatz wünscht sich mancher der in der großen Mehrzahl friedlichen Fußball-Fans hierzulande eine ähnliche Kundgebung nach dem Motto "Arsch huh, Zäng ussenander". Zeugen müssen reden - denn ohne Hinweise aus dem Kreis der orgiastisch Prügelnden vom Samstag wird es schwerfallen, den Täter zu finden, der einem Fan des FC Schalke 04 einen laut Medizinern "zertrümmerten Gesichtsschädel" zufügte.

Der schwer Verletzte ist nach einer Notoperation außer Lebensgefahr. "Es war reines Glück, dass wir nicht den ersten Toten beklagen mussten", kommentierte am Montag Arnold Plickert, NRW-Vorsitzender der Polizeigewerkschaft. Der renommierte Diplom-Soziologe Gunter A. Pilz, Leiter der Kompetenzgruppe "Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit" (KoFaS) an der Universität Hannover, hat beobachtet, "dass das Handeln zunehmend entgrenzter und enthemmter wird".

Für Pilz hat die größere Gewaltbereitschaft im Umfeld des Fußballs viel mit der "neu zu beobachtenden Vermischung von Alt-Hooligans, Neonazis und kleineren Ultra-Fan-Gruppen" zu tun. "Diese sind von Gewalt fasziniert und kämpfen um die Meinungshoheit in den Fankurven", erklärt der Soziologe. Brutalität ist allen gemein.

Nun setzt sich die Szene der Ultra-Fans, die sich rund um fast alle Topvereine gebildet hat, weder ausschließlich aus Nazis noch nur aus Gewalttätern zusammen, doch das Verhältnis zur Gewalt verschwimmt. Eine Mehrheit unter ihnen toleriert, dass eine Minderheit zuschlägt.

Wenige prügeln, doch viele schauen zu. Leidtragende sind die Proficlubs, in diesem Fall nicht zuletzt der 1. FC Köln, der unmittelbar nach den Vorfällen erklärte, alles in seiner Macht stehende "zu tun, um diese Personen aus dem Umfeld unseres Clubs zu entfernen".

Auf der FC-Homepage appellierte der Verein am Montag an die Fanszene, "sich von gewaltsuchenden Gruppen zu distanzieren", und stellte fest: "Wir sind nicht Komplizen, sondern Opfer dieser Leute." Der 2:1-Testspielsieg des Zweitliga-Tabellenführers gegen den Erstligisten im nur fünf Kilometer vom Tatort entfernten Stadion: Längst kein Thema mehr.

Schalke gab an, 498 Stadion- und Geländeverbote gegen Randalierer bis zum 30. Juni 2019 ausgesprochen zu haben. Nach Informationen dieser Zeitung hat der FC derzeit rund 100 Anhänger ausgesperrt, in Dortmund sollen es etwa 250 sein. Betroffen davon sind vor allem Mitglieder der Ultraszene, die in Prügelorgien eine willkommene Abwechslung zum durchreglementierten Alltag suchen - und ansonsten für aus ihrer Sicht ehrenwerte Ziel kämpfen, etwa gegen die Kommerzialisierungsauswüchse im Fußball.

Nach den Darstellungen einschlägiger Internetforen der Fangruppierungen ergab sich die Kölner Eskalation der Gewalt an nicht geplanter Stelle, weil sich Teile der für eine Prügelorgie am Aachener Weiher verabredeten Schalker und Kölner Fans bereits am Rudolfplatz in die Haare gerieten. Unterstützt wurden die Kölner Chaoten von Dortmundern. Die Polizei ermittelt gegen Mitglieder der Ultragruppierungen "Boyz" aus Köln und "Desperados" aus Dortmund.

Der von der Kölner Polizei gegründeten Ermittlungsgruppe steht eine Mammutaufgabe bevor: Dutzende Handyvideos auswerten, Bilder von Überwachungskameras anschauen, Augenzeugen befragen. Der Sonderkommission gehören rund 30 Beamte verschiedener Kommissariate an. Die Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingeleitet. "Wir ermitteln wegen gefährlicher Körperverletzung", sagt Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn. Bisher habe sich keiner der befragten Hooligans zu der Tat bekannt; aus Sicht der Ermittler nichts Neues. "Es gibt in diesen Reihen ein Schweigegelübde", sagt Willuhn.

Intern werde gerne ein Flugblatt verteilt mit der Aufschrift: "Sprich nicht mit dem Schutzmann". Und daran werde sich auch meist gehalten. Laut Polizei nahmen an der Schlägerei auch mit den Schalkern verbündete Nürnberger Hooligans teil. Für Polizeipräsident Wolfgang Albers ist eine neue Stufe der Gewalt erreicht. "Ich verurteile die Geschehnisse aufs Schärfste."

Entsetzen verspüren auch Beamte, die schon in Sachen Fußballkriminalität unterwegs waren, als die modernen Arenen im Land noch Zukunftsmusik waren. "Geschlagen wurde sich unter verfeindeten Fans auch schon früher. Aber damals gab es noch eine Art Kodex. Es wurden Fäuste benutzt und wer auf dem Boden lag, wurde in Ruhe gelassen", sagte ein Ermittler, der in der Innenstadt mehrere Chaoten festgenommen hat. Heute würden die Hooligans "bis an die Zähne bewaffnet" zu den Kämpfen fahren.

Das jetzt in Köln entdeckte Waffenarsenal ist groß: Beschlagnahmt wurden Sturmhauben, Stahlruten, Totschläger, Zahnschutz und Quarzhandschuhe. "Wir haben weit über 50 Gegenstände dieser Art rund um den Rudolfplatz entdeckt", hieß es aus informierten Kreisen. Von 55 Verdächtigen wurden Personalien aufgenommen.

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