Interview mit Paralympics-Sieger Alexander Spitz „Man muss die Krankheit annehmen“

Wesseling · Alexander Spitz steht mitten in einem Leben voller Höhen und Tiefen. Der 48-Jährige aus Wesseling hat zweimal den Krebs besiegt. Aus dem Sport hat der Paralympics-Sieger seine Kraft geschöpft.

 Es sei das „weltweit am häufigsten veröffentliche Foto aus dem Behindertenskisport“, sagt Alexander Spitz, der nach diesem Sturz bei den Paralympics 1998 in Nagano seine Karriere beenden musste. FOTO: DPA

Es sei das „weltweit am häufigsten veröffentliche Foto aus dem Behindertenskisport“, sagt Alexander Spitz, der nach diesem Sturz bei den Paralympics 1998 in Nagano seine Karriere beenden musste. FOTO: DPA

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Als Kind musste Ihnen ein Bein wegen einer Krebserkrankung amputiert werden. Wie sind Sie in jungen Jahren damit umgegangen?

Spitz: Im Nachhinein betrachtet, ist es schon fast ein Vorteil, wenn einem so etwas als Kind passiert. Als Kind ist es wesentlich einfacher, weil man sich viele Gedanken einfach nicht macht. Meine erste Frage war damals gleich: Kann ich wieder Fußballspielen und Skifahren? Das war meine allergrößte Sorge. Und nicht der Krebs.

War Ihre Unbefangenheit also hilfreich?

Spitz: Ich konnte es damals noch gar nicht einordnen, was passiert ist. Die Ärzte haben mir zwar erklärt, dass das Bein weggenommen werden muss. Aber die Folgen, die Konsequenzen der Chemotherapie, die sind als Kind nicht einzuschätzen.

Sie haben die Krankheit dennoch gleich angenommen.

Spitz: Ja, ich habe Wege gesucht. Ich wollte damals ums Verrecken mit meinen Kumpels Fußball spielen. Es ging im Feld mit Krücken. Nur war ich natürlich nicht so schnell. Bis zu einem gewissen Stadium funktionierte es, aber dann sind mir die anderen einfach weggelaufen.

Das war dann das Ende Ihrer Fußballerkarriere. . .

Spitz: Nein, da ich vorher schon mal als Torwart gespielt hatte, wollte ich es mit einem Bein im Tor versuchen. Es hat wunderbar geklappt. Es war wichtig, aus den Gegebenheiten etwas zu machen.

Wie kann jemand, der weniger Antrieb verspürt, mit einem ähnlichen Schicksalsschlag umgehen?

Spitz: Man sollte nicht zu lange darüber grübeln, dass man Krebs hat oder nur ein Bein. An der Situation kann man nichts ändern. Wenn man es aber schafft, dass man eine Krankheit oder eine Behinderung annimmt und ein ganz normales Leben – in den gegebenen Möglichkeiten – führt, dann bietet sich für jeden eine Chance.

Kann der Sport helfen?

Spitz: Im Sport ist ein schnelles Zurückkommen möglich. Ich war ehrgeizig, habe bei meinem ersten Versuch als Behindertenskifahrer bei uns zu Hause an einem kleinen Skilift die Krückenskier in den Bach geschmissen, weil ich nicht wusste, was ich mit den Dingern machen sollte. Aber es wurde ja immer besser.

Welche Wirkung erzielten die Fortschritte bei Ihnen?

Spitz: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dieses Kämpferherz, das mir in die Wiege gelegt wurde, mich vorangebracht hat. Ich bin auch davon überzeugt, dass der Sport Erkrankungen vorbeugt und währenddessen hilft. Er hat mir Kraft gegeben.

Die Folgen Ihrer Krankheit waren als Kind für Sie noch nicht absehbar. Hat sich die Situation geändert, als bei Ihnen 2008 ein Tumor in der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse, d. Red.) festgestellt wurde.

Spitz: Ja, das war eine ganz andere Kragenweite. Ich war schon Familienvater, meine Kinder beide jünger als zehn. Da spielte das Ungewisse eine Rolle und die Frage: Wo geht die Reise jetzt hin?

Wie haben Sie den erneuten Schicksalsschlag verarbeitet?

Spitz: Für mich stellte sich nach der Tumor-Erkrankung zunächst die Rückkehr ins alltägliche Leben als Problem dar. Ich hatte permanent Kopfschmerzen. Aber die gingen ja vorbei. Was ich allerdings nicht einschätzen konnte, war, wie mein Körper durch die hormonelle Umstellung auf bestimmte Situationen reagiert.

Wie hat sich die geäußert?

Spitz: Jeder Gang zum Supermarkt um die Ecke etwa war eine riesige Strapaze. Für mich stand aber nie zur Debatte, dass ich aufgeben werde.

Was raten Sie Betroffenen?

Spitz: Es ist wichtig, dass die Familie möglichst normal weiterlebt. Wenn das Umfeld positiv mit der Erkrankung umgeht, dann ist das hilfreich. Wenn sich auf einmal komplett alles verändert, ist es das Schlimmste, was passieren kann. Gerade für den Erkrankten.

Welche Hilfe schwebt Ihnen vor?

Spitz: Ich fordere eine bessere psychoonkologische Begleitung. Auch Familien müssen mitbetreut werden, wenn sie aus eigenem Antrieb die Kraft nicht aufbringen.

Trotz aller Hindernisse waren Sie ein herausragender Sportler, der alleine vier Goldmedaillen bei Paralympics gewann. Rio 2016 war ein voller Erfolg für den paralympischen Sport. Bleibt er von der Krise verschont, in der die olympische Bewegung steckt?

Spitz: Die Entwicklung der letzten Jahre ist höchst erfreulich, für manche aber nicht schnell genug. Noch ist der paralympische Sport sehr jung, und mir ist es lieber, er wächst kontinuierlich auf einem breiten Fundament. Denn ein Baum, der starke Wurzeln schlägt, wird nicht so schnell umfallen.

Was war für Sie der positivste Effekt der gestiegenen Popularität?

Spitz: Die Spiele nehmen eine Leuchtturmfunktion ein. So hat sich etwa nach den Spielen 2008 in Peking für Behinderte in China gesellschaftlich einiges zum Positiven geändert. Es gibt immer mehr Länder, in denen Athleten durch paralympische Erfolge genauso zum Volkshelden werden wie durch olympische. Damit steigen allerdings auch die Gefahren für die Bewegung.

Welche Gefahren meinen Sie?

Spitz: Die Professionalisierung – wie im anderen Sport auch werden damit die Themen Doping und Materialmanipulation befeuert. Je weiter die Kommerzialisierung fortschreitet, desto größer werden dafür leider die Anreize. Das ist menschlich und gilt keineswegs nur für Nichtbehinderte, wir repräsentieren genauso den gesellschaftlichen Schnitt. Darum müssen konsequente und einheitliche Regeln geschaffen werden.

Ihre Einschätzung: Ist das Dopingproblem im paralympischen Sport genauso groß wie im Restsport?

Spitz: Die großen Summen sind zum Teil noch nicht im Spiel. Ich bin aber überzeugt, dass mit der Angleichung der wirtschaftlichen Anreize die Verbreitung von Leistungsmanipulation zunimmt.

Wie sehen Sie die Entscheidung des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), im Gegensatz zum IOC alle russischen Athleten von den Spielen in Rio auszuschließen?

Spitz: Ich fand es eine richtige Entscheidung. Wenn grundsätzlich festgestellt wird, dass systematisch betrogen wird, dann gibt es zu dieser Konsequenz keine Alternative. Auch wenn damit der eine oder andere saubere Sportler zu Unrecht bestraft wird.

Die Paralympics nähern sich ihrem eigenen, speziellen Gigantismus – schwer durchschaubare Wettbewerbe, zu viele Wertungen. Was muss sich ändern?

Spitz: Die Klassifizierungen und Handicap-Faktoren müssen reduziert werden. Ganz wichtig ist, dass die Behindertensportverbände und die Sportler selbst einsehen: Man kann nicht jeden Behinderten auf der Welt abholen, auch wenn alle Leistungen toll sind.

Was also tun?

Spitz: Disziplinen streichen, in denen es nur sehr wenige Teilnehmer gibt. Es soll ja niemand ausgeschlossen werden, aber dann muss er eben in der nächsthöheren Klasse starten.

Zum Beispiel?

Spitz: Wenn es zum Beispiel nur drei oberschenkelamputierte Teilnehmer gibt, müssten die eben bei den Unterschenkelamputierten mitlaufen.

Soll der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm auch bei den Nichtbehinderten mitmachen, obwohl er durch den Katapulteffekt seiner Prothese mutmaßlich einen Vorteil hat?

Spitz: Es ist zu begrüßen, dass Rehm bei Leichtathletikmeisterschaften vertreten ist. Das ist für die Popularität des Behindertensports goldwert. Aber die Zusammenführung ist grundsätzlich eine Herausforderung, weil auch die paralympische Bewegung eine riesige geworden ist. Lieber als einzelne Starter bei den Nichtbehinderten würde ich einzelne Paralympics-Wettbewerbe zunehmend bei Olympia integriert sehen.

Aber das Programm ist doch ohnehin schon völlig überfrachtet.

Spitz: Richtig. Das gilt aber für beide Seiten. Und deshalb kann es auch nur funktionieren, wenn sowohl das olympische wie auch das paralympische Wettkampfpaket abgespeckt werden. Ich bin überzeugt, dass gemeinsame Winterspiele bereits möglich sind.

Wie stellen Sie sich das denn konkret vor?

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