Wirtschaftliche Folgen des Dauerstaus Wirtschaftsförderer: "Die Rechnung fällt nicht niedrig aus"

Rhein-Sieg-Kreis · Wenn die Region im Stau steht, dann leidet die Wirtschaft. Mit Blick auf die langwierigen Bauarbeiten an den Rheinbrücken und am Tausendfüßler (A565) warnt Hermann Tengler, Wirtschaftsförderer des Rhein-Sieg-Kreises, vor verheerenden Folgen. Der Region drohe ein Verlust von Arbeitsplätzen, wenn es für die Lösung der Verkehrsprobleme keine klare Perspektive gebe. Mit Tengler sprach Dominik Pieper.

 Hermann Tengler ist seit 25 Jahren Wirtschaftsförderer des Rhein-Sieg-Kreises.

Hermann Tengler ist seit 25 Jahren Wirtschaftsförderer des Rhein-Sieg-Kreises.

Foto: Dominik Pieper

Herr Tengler, Sie wohnen rechtsrheinisch, Ihr Arbeitsplatz ist rechtsrheinisch. Gehören Sie zu den Leuten, die während der Bauphase auf der Nordbrücke die andere Seite meiden?
Hermann Tengler: Nein, das würde gar nicht gehen. Ich muss ja weiterhin meine Termine wahrnehmen, und die sind auf beiden Seiten des Rheins. Insofern bin ich kein Berufspendler, aber ich nehme am Wirtschaftsverkehr teil. Man kann auch die jeweils andere Rheinseite nicht ohne Weiteres meiden, weil es ein enormes Wirtschaftsgeflecht zwischen Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis gibt. Das ist bei uns stärker ausgeprägt als in anderen Regionen.

Wie äußert sich das?
Tengler: Bonn hat als Verwaltungs- und Dienstleistungsstadt eine relativ kleine Fläche, aber 235 000 Arbeitsplätze. Das ist eine extrem hohe Dichte. Mehr als jeder zweite Arbeiternehmer kommt von außerhalb. Von den täglich 124 000 Berufseinpendlern wohnen allein 58 000 im Rhein-Sieg-Kreis. 51 800 Menschen pendeln täglich aus Bonn aus. Und dann fahren noch bis zu 5000 Pendler täglich von der einen in die andere Hälfte des Kreises.

Wird es sich angesichts dieser massiven Verkehrsströme überhaupt bemerkbar machen, wenn einige während der Bauarbeiten auf der Nordbrücke ihr Auto stehen lassen?
Tengler: Natürlich lässt sich etwas im Pendlerverkehr machen, zum Beispiel durch Fahrgemeinschaften oder durch den Umstieg auf Bus und Bahn. Und natürlich können Unternehmen durch Veränderung von Arbeitszeiten oder Telearbeit für eine gewisse Entzerrung und Entlastung sorgen. Das ist im Wirtschaftsverkehr nicht so einfach. Nehmen wir das Handwerk: Die Zahl der Betriebe ist im Kreis um 40 Prozent höher als in Bonn.Viele dieser Betriebe haben ihre Kunden in Bonn. Für diese Firmen gibt es keine Alternative. Der Bäcker kann seine Filialen nicht mit der Linie 66 versorgen, der Sanitärbetrieb kann Kunden nicht mit dem Fahrrad aufsuchen.

Die anstehenden Bauarbeiten an der Nordbrücke dauern sechs Wochen. Werden die Unternehmen das nicht wegstecken oder kompensieren können?
Tengler: Wenn es nur die sechs Wochen wären! Uns stehen über Jahre langwierige und immer wiederkehrende Bauarbeiten bevor, bis hin zum Abriss und Neubau des Tausendfüßlers. Die Verkehrssituation ist das größte Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung der Region. Bonn und der Rhein-Sieg-Kreis sind in den vergangenen 25 Jahren um 100 000 Einwohner gewachsen, es sind mehr als 25 000 Betriebe hinzugekommen, entsprechend ist der Verkehr gewachsen. Der Ausbau des Straßennetzes hat nicht in dem Maße Schritt gehalten, das gilt insbesondere für die Ost-West-Verbindung. Für dieses politische Unterlassen werden wir jetzt bestraft, und die Rechnung wird nicht niedrig ausfallen.

Wie äußert sich das in Zahlen?
Tengler: Da gibt es verschiedene Berechnungen. Eine kam zu dem Ergebnis, dass der Stau auf den Autobahnen in Bonn und Umgebung für Bürger und Betriebe einen gesamtwirtschaftlichen Schaden von 880 Millionen Euro im Jahr bedeutet. Die Kreishandwerkerschaft hat für eine eigene Rechnung 3000 Betriebe mit jeweils drei Mitarbeitern zugrunde gelegt, die 20 Minuten am Tag auf der Nordbrücke im Stau stehen. Das würde zusätzliche Lohnkosten in Höhe von 30 Millionen Euro zur Folge haben. Wer den Umsatz halten will, muss demnach Zusatzkosten in Kauf nehmen. Meiner Einschätzung nach wird es aber eher zu Umsatzverlusten kommen. Der Absatzradius der Firmen wird kleiner, es kommt eher zu Personalabbau als zu Neueinstellungen.

Wäre es nicht denkbar, dass sich der Wirtschaftsraum lediglich in links- und rechtsrheinisch aufspaltet?
Tengler: Dieser Effekt wird wohl weniger eintreten. Die Märkte werden ganz einfach geringer. Die Betriebe werden einen Teil ihres Marktes jenseits des Rheins verlieren. Wenn sie sich darauf verlegen, neue Marktanteile auf der eigenen Rheinseite zu gewinnen, verdrängen sie wiederum andere.

Wird es Auswirkungen auf den regionalen Arbeitsmarkt geben?
Tengler: Da könnte es tatsächlich zu einer verstärkten Trennung zwischen dem Rechts- und dem Linksrheinischen kommen. Es wird für Unternehmen kaum noch möglich sein, von der jeweils anderen Rheinseite Arbeitskräfte zu bekommen. Das betrifft vor allem die Gutqualifizierten, die sich ihren Arbeitsplatz aussuchen können. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist das ein Problem. Ich kenne bereits Fälle, in denen Unternehmen entsprechende Absagen bekommen haben. So wollte ein Handwerksbetrieb aus Sankt Augustin einen Gesellen aus Rheinbach einstellen. Doch der hat abgewunken.

Wegen der Verkehrssituation?
Tengler: Genau. Die Leute sagen: "Das tue ich mir nicht an." Wer im Stau steht, der ist frustriert, der kommt zu spät zur Arbeit, dessen Motivation leidet. Auch dadurch kommt es übrigens zu negativen wirtschaftlichen Auswirkungen.

Muss auch der Einzelhandel negative Folgen befürchten?
Tengler: Die Bonner werden Probleme bekommen. Dort gibt es Geschäfte, die allein schon wegen der Schließung der Unitiefgarage einen Umsatzrückgang von 20 Prozent beklagen. Betroffen sind vor allem diejenigen, die höherwertige Güter oder Luxusartikel anbieten. Deren Kunden kommen nicht mit der Stadtbahn. Die weichen nach Köln oder Düsseldorf aus. Das wird dem Einzelhandelsstandort Bonn wehtun.

Die Kunden könnten sich aber auch in den umliegenden Kreis orientieren, oder?
Tengler: Sicher, manch einer aus dem Kreis wird sich vielleicht im näheren Umfeld umsehen und das Angebot neu entdecken. Insofern könnte das eine Chance für die wohnortnahe Versorgung sein. Was aber nichts an den Problemen ändert, die den Bonnern drohen.

Was folgt aus all dem? Sind das Argumente für die Südtangente oder die vierte Rheinbrücke?
Tengler: Um es ganz einfach zu sagen: Wir brauchen eine klare Perspektive für bessere Ost-West-Verkehrsverbindungen. Bleibt es beim Status quo, wird die Region ganz sicher viele Arbeitsplätze verlieren. Betriebe könnten auf den Gedanken kommen, ihren Standort zu verlagern. Und manche Neuansiedlung kommt womöglich nicht zustande.

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