Die Geschichte eines Scheiterns Neuwieder Schraubenwerk meldet Insolvenz an

NEUWIED · Ein Jahr nach der Übernahme durch den US-Investor Neil Whitesell meldet das Neuwieder Schraubenwerk Insolvenz an.

Industriegeschichte: In Neuwied-Niederbieber sind manche Werkshallen mehr als 100 Jahre alt.

Industriegeschichte: In Neuwied-Niederbieber sind manche Werkshallen mehr als 100 Jahre alt.

Foto: S. Welker

Josef Frye kennt auf dem weitläufigen Gelände der Neuwieder Schraubenfabrik jeden Raum, jede Maschine, jeden Kollegen. 39 Arbeitsjahre in der Firma sind eine lange Zeit.

Der 62-Jährige wohnt im Nachbarort des Unternehmens, das heute Whitesell heißt, davor Ruia, davor Acument, davor Textron und ganz früher, als die Arbeitswelt im Ortsteil Niederbieber noch in Ordnung war, schlicht "beim Boesner".

Für die Einheimischen ist es "der Boesner" geblieben, der Einfachheit halber. Frye kramt seine Visitenkarte als Betriebsratsvorsitzender hervor, "hier steht noch Ruia" drauf, sagt er und zuckt mit den Schultern. "Macht aber nichts, die Mailadresse funktioniert noch." Neue Karten zu drucken, hätte sich auch kaum gelohnt. Frye hofft, dass es bald einen neuen Namen gibt. Denn das Werk ist pleite - zum dritten Mal innerhalb weniger Jahre. Und diesmal geht es um viel, vielleicht um alles.

Am Mittwoch hat der Eigentümer, Neil Whitesell, Unternehmer aus Florida, über seine deutsche Tochterfirma den Insolvenzantrag am Amtsgericht Düsseldorf gestellt. Es ist das vorläufige Ende eines Wirtschaftskrimis. Für die Beteiligten in Deutschland, vom Gewerkschafter bis zum Manager, sind die Rollen klar verteilt: Der Heuschrecken-Investor aus dem fernen Amerika als Schurke. Die 1300 Whitesell-Mitarbeiter in ganz Deutschland und die düpierten Kunden des Unternehmens als Opfer.

Vieles spricht für diesen Tathergang. Ob es aber am Ende skrupellose Habgier oder doch einfach ein großes Unverständnis der deutschen Geschäftskultur waren, die Neil Whitesell scheitern ließen, bleibt ein Rätsel. Der Unternehmer selber könnte es lösen. Aber er schweigt gegenüber seinen Beschäftigten, für die diese Geschichte bitterer Ernst wurde. Und er schweigt erst recht zu Anfragen der Presse.

"Es muss hier einfach weitergehen", sagt Frye. Er ist kein Freund großer Worte, ein bedächtiger Mann. Aber jetzt muss er schlucken. Wie eine stille Mahnung hängt hinter ihm an der Wand im Betriebsratsbüro ein braunstichiges gerahmtes Foto: Mit ernsten Mienen hat sich die Belegschaft am 3.Mai 1952 vor den Fabrikmauern aus Backstein aufgestellt.

Frye ist überzeugt: Es hätte nicht zur Pleite kommen müssen. Denn die Ausgangslage ist eigentlich simpel. Das Werk in Niederbieber produziert seit 1843 Schrauben, erst für Bastler und Handwerker, später beliefern die Niederbieberer Fahrzeughersteller. Die Schrauben sind gut, auf der Kundenliste fanden sich zuletzt die großen deutschen Automarken.

Und trotzdem stehen seit Wochen die meisten Maschinen still. Kartons mit unverkaufter Ware stapeln sich in den Hallen. Die Mitarbeiter versuchen mit Renovierungen und Reparaturen, ihre Arbeitstage halbwegs sinnvoll zu füllen.

Denn die Ausgangslage ist gleichzeitig auch kompliziert: Die Fabrik ist ein Beispiel dafür, wie ein einzelner Investor über das Schicksal Hunderter Beschäftigter entscheidet. Sie ist ein Beispiel für die Kehrseite der Globalisierung, von der deutsche Unternehmen und Bürger an anderer Stelle profitieren.

Neil Whitesell kaufte Ende Dezember 2013 die vier deutschen Schraubenfabriken aus der Insolvenzmasse des indischen Investors Ruia in Neuwied, Neuss, Beckingen im Saarland und Schrozberg in Baden-Württemberg mit insgesamt 1300 Beschäftigten. Der Mann aus Florida habe zwischen 15 und 20 Millionen Euro für die Betriebe samt schuldenfreier Grundstücke und Gebäude und Maschinen bezahlt, heißt es. Das könnte ein Schnäppchen sein, wenn etwa das Gelände des mittlerweile geschlossenen Werkes in der Neusser Innenstadt teuer weiterverkauft wird. Das hätte ein reeller Preis sein können, wenn der Unternehmer das nach den vielen Eigentümerwechseln dringend benötigte Geld in die Standorte investiert hätte.

Doch Whitesell wählte einen anderen Weg: Kurz nach der Übernahme brachte er in seltener Einmütigkeit Mitarbeiter, Gewerkschaft, Kunden und sogar Mitglieder der Geschäftsleitung der eigenen Werk egegen sich auf, indem er die Preise für die Produkte drastisch erhöhte. Bis zu doppelt so teuer sollen die Schrauben von einem Tag auf den anderen geworden sein. Betriebsrat Frye spricht von einer "Schockstarre", die der Schritt ausgelöst habe.

"Betriebswirtschaftliches Harakiri" urteilt ein Experte aus der Automobil-Zulieferer-Branche. Denn in dieser Industrie seien langfristige Verträge die Regel. Die Autobauer feilschten zwar gnadenlos um die besten Preise, garantieren ihren Lieferanten dann aber die Abnahme. Sie müssten sich auf die pünktliche Lieferung mit einwandfreien Teilen verlassen können. Anbieterwechsel sind langwierig und kompliziert. Auf Preisänderungen kann nicht schnell reagiert werden.

"Einige Hersteller haben zähneknirschend erst einmal die höheren Preise bezahlt", sagt Markus Eulenbach von der IG Metall Neuwied. "Aber es war klar, dass sie langfristig abspringen." Besonders getroffen hat das Werk der Verlust des Kunden BMW. Der Münchner Automobilriese bestätigt auf Anfrage zwei Gerichtsverfahren gegen Whitesell, will sich zu den Inhalten aber nicht äußern.

Für den US-Investor rechnete sich das Geschäft zunächst wohl trotzdem: Die höheren Preise konnten die Verluste der stornierten Aufträge wettmachen, heißt es aus der Belegschaft. Whitesell habe jeden Monat Gewinne aus dem Unternehmen gezogen. Irgendwann war Schluss: "Die Lohnzahlungen für Januar standen an, die Aufträge wurden immer weniger", sagt Gewerkschafter Eulenbach. "Whitesell hat jetzt die Reißleine gezogen."

Gewerkschaften fürchten, dass das geplante deutsch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP Investoren wie Whitesell künftig in die Hände spielt. Sollte wie geplant ein Investorenschutz verankert werden, könnten deutsche Gesetze nicht mehr zugunsten der Beschäftigten verändert werden.

Betriebsrat Frye will auch nach der dritten Pleite die Hoffnung auf einen Neubeginn nicht aufgeben. Schon vor der Insolvenz hatte Whitesell Bereitschaft zum Verkauf der deutschen Werke signalisiert, es ist die Rede von verschiedenen Interessenten.

"Noch sind die qualifizierten Mitarbeiter hier und noch können wir vielleicht einige Aufträge zurückholen", sagt er. "Schließlich haben wir doch all die Jahre hier gute Arbeit geleistet." Gewerkschafter Eulenbach sieht in der Pleite gar einen Hoffnungsschimmer. Wenn statt Whitesell nun der Insolvenzverwalter entscheide, gebe es wenigstens einen erreichbaren Ansprechpartner und begründete Entscheidungen.

Vor dem Werkstor steht ein gravierter Stein: "Gegründet 1843". "Den haben sie erst letztes Jahr zufällig unten am Wiedufer auf dem Werksgelände gefunden und hier ans Eingangstor gebracht", sagt er. "Wär´ doch schade drum."

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