Rheinbacher Stadtgeschichte Vor 70 Jahren kamen die ersten Glasfacharbeiter nach Rheinbach

RHEINBACH · Als Folge der gewaltsamen Vertreibung der Deutschen kamen die ersten Glasfacharbeiter vor 70 Jahren nach Rheinbach und bildeten den Anfang für die Entwicklung zur Glasstadt. Wir werfen einen Blick zurück.

Nach Kriegsende kam es – wie auch in vielen anderen Gebieten im Osten – in Nordböhmen/Sudeten (heutiges Tschechien) zu flächendeckenden Vertreibungen der Deutschen, die dort im Laufe der Geschichte ihre Heimat gefunden hatten. Dass dieser Umstand eng mit der Stadtgeschichte Rheinbachs verknüpft ist, ist vielen in heutiger Zeit nicht mehr bewusst und kaum ein Zugezogener weiß, wann Rheinbach zu dem Beinamen „Glasstadt“ kam. In der Region Steinschönau/Haida, die zu 95 Prozent von Deutschen besiedelt war, hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Glasindustrie mit einer der ältesten Glasfachschulen entwickelt. Als Folge der gewaltsamen Vertreibung der Deutschen kamen die ersten Glasfacharbeiter vor 70 Jahren nach Rheinbach und bildeten den Anfang für die Entwicklung zur Glasstadt.

In einer Abschrift des Befehls des Militärortskommandanten aus Böhmisch-Leipa vom 19.6.1945 ist genauestens geregelt, wie die Deutschen das Land am kommenden Morgen zu verlassen hätten. Schmuck und Wertsachen, Haustiere und Vieh habe man zurückzulassen, man dürfe lediglich Lebensmittel für sieben Tage und nur das Notwendigste, das man selber tragen könne, mitführen. Jegliche Zuwiderhandlung werde bestraft.

Genauso hat es auch Gerlinde Hopfinger erlebt, die als 13-Jährige zusammen mit ihrer Mutter, Großmutter und Schwester von der grauenvollen Umsiedlung betroffen war. Im Jahr 1948 kam sie nach Rheinbach und lebt noch heute dort. „Es war ein heißer Sommertag, an dem wir am frühen Morgen zusammen mit 2000 anderen Deutschen gezwungen wurden, unsere Heimat zu verlassen“, erinnert sich die heute 86-Jährige. Sie habe in Skistiefeln laufen müssen und zwei Kleider übereinander getragen, auf dem Rücken ein Rucksack, auf dem ein Kochtopf geschnürt war.

Herzlicher Empfang in Rheinbach

Als ersten Ort auf deutschem Gebiet habe sie Bad Schandau in Sachsen erreicht. Drei Jahre später seien sie dann nach Rheinbach gekommen. Nach der tschechischen Gefangenschaft leitete dort ihr Vater, der Verwaltungsbeamte Oskar Walter aus Steinschönau, die vom Land geförderte Aufbaustelle zur Koordinierung aller zu treffenden Maßnahmen. Diese befand sich im Gastraum der Bäckerei Mostert an der Hauptstraße Rheinbachs. Dort wurden Zuzugsgenehmigungen und Quartiere verteilt und der Aufbau der Betriebsstätten organisiert.

Da es den meisten auch am Notwendigsten wie Kochgeschirr fehlte, wurde in der ersten Zeit von den Nonnen des Internats „Unserer Lieben Frauen“ am Stadtpark ein Mittagstisch eingerichtet. Eingenommen wurden die Mahlzeiten im „Cafe´ Rogall“ an der Hauptstraße gegenüber der katholischen Kirche Sankt Martin (heute Geschäft für Geschenkartikel „Confetti“). „Wir hatten Glück, der Empfang hier in Rheinbach war überaus herzlich“, berichtet Gerlinde Hopfinger. Das war nicht selbstverständlich, war Rheinbach selbst doch zu dieser Zeit zu 70 Prozent durch Bombenhagel zerstört und Wohnraum war knapp. Allerdings suchte man aus wirtschaftlichen Gründen nach einer umweltfreundlichen Industrie. Rauchfrei sollte sie sein, um das Naturschutzgebiet zu schützen, gleichzeitig aber sollten viele Arbeitsplätze geschaffen werden.

Glasfacharbeiter kamen wie gerufen

Auf der Suche nach Vertriebenen, die ihre eigenen Fertigkeiten mitbrachten, kamen die Glasfacharbeiter aus Nordböhmen wie gerufen. Das Zusammenleben funktionierte weitgehend reibungslos. „Nur die Waschwoche haben wir konsequent einhalten und das Treppenhaus regelmäßig schrubben müssen“, beschreibt Hopfinger das neue Leben in ihrer Unterkunft in der Bahnhofstraße. „Außerdem waren wir uns menschlich ähnlich“, schmunzelt sie. „Genauso wie die Rheinländer feierten wir in der Heimat gerne und haben auch denselben Humor“.

Dies bestätigt auch Fritz Berg, der sich als Rheinbacher noch gut an die Ankunft der „Glasblöser“ erinnern kann. Als damals 17- Jähriger habe er nach einer Arbeitstelle gesucht und wollte eigentlich nach Abschluss der Schule Elektriker werden. Doch nicht nur in dem Bereich war es schier unmöglich, eine Lehrstelle zu finden. „So kam ich zum Glas, mein Glück!“

Laut Berg waren in dieser Zeit um die 300 Glasfacharbeiter nach Rheinbach gekommen, darunter auch zahlreiche Lehrer. Sie bildeten die Grundlage für die Eröffnung der Glasfachschule, für deren Förderung die damalige Landesregierung grünes Licht gab. „Anfangs bezog man die Räume des zu der Zeit ebenfalls zerstörten ehemaligen Bürgermeisteramts, Vor dem Voigtstor 23 (heute Imbiss „Ali Baba“ neben Bürobedarf Engler) und richtete dort die Werkstätten ein“, erinnert sich der Rheinbacher Glaskünstler. Bis zu deren Fertigstellung fand der anfangs nur theoretische Unterricht im heutigen Rathaus statt.

Glasfachschule wurde 1948 gegründet

Sowohl Fritz Berg, als auch Gerlinde Hopfinger gehörten zu den ersten Jahrgängen von Auszubildenden, die ihre Lehre in der 1948 gegründeten Glasfachschule begonnen haben. „In der 30-köpfigen Klasse war ich einer der wenigen Rheinländer. Die Lehrer und die meisten Mitschüler waren Sudetendeutsche.“, so Berg. Das Klima sei gut gewesen: „Zusammen feiern konnten wir immer“, erinnert er sich vor allem an Schülerfeste („Scherbenkiste“) und die gut besuchten „Blöserbälle“, die auch im „Haus Streng“ stattfanden. Dort tanzte auch Gerlinde Hopfinger als Mitglied der 1951 gegründeten Damentanzgruppe „Blösergarde“.

Trotz aller Not in den Anfangsjahren konnten die meisten Zugezogenen aus dem Sudetenland hier durch die gemeinsame Aufbauarbeit, die Offenheit der Rheinländer und die guten zwischenmenschlichen Kontakte schnell Fuß fassen und fühlen sich bis heute zu Hause. „In Steinschönau ist ja niemand mehr, da ist alles verwaist und die Friedhöfe sind von Wildwuchs überwuchert“, berichtet Gerlinde Hopfinger über ihren letzten Besuch in den 90er Jahren im heutigen Tschechien. „Es sind vor allem die Menschen, die einem das Gefühl von Heimat geben.“

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