Interview mit Gianna Molinari Schweizer Autorin zu Gast auf dem Sofa in Rheinbach

Rheinbach · Die wahre Begebenheit eines Migranten aus dem Jahr 2010, der sich im Fahrwerk eines Flugzeugs versteckt, um nach Europa zu gelangen, greift die junge Schweizerin in ihrem mit reichem Kritikerlob versehenen Erstlingsroman „Hier ist noch alles möglich“ auf.

 Gianna Molinari.

Gianna Molinari.

Foto: Christoph Oeschge

In einem Wald in Nähe des Züricher Flughafens wird die Leiche eines Mannes gefunden – ein Afrikaner, bekleidet mit T-Shirt und Jeans, ohne Papiere. Erst als jemand zu den Baumkronen emporblickt und die geknickten Äste entdeckt, wird klar, wie er dorthin gelangt ist: Der Namenlose fiel vom Himmel. Diese wahre Begebenheit eines Migranten aus dem Jahr 2010, der sich im Fahrwerk eines Flugzeugs versteckt, um nach Europa zu gelangen, greift die junge Schweizerin Gianna Molinari in ihrem mit reichem Kritikerlob versehenen Erstlingsroman „Hier ist noch alles möglich“ auf. Am Mittwoch, 28. November, 19.30 Uhr, ist Molinari, die mit ihrem Debüt für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, „Zu Gast auf dem Sofa“ in der Hochschul- und Kreisbibliothek in Rheinbach. Mit der 30-Jährigen sprach .

Ihre namenlose Nachtwächterin wohnt in einer Fabrikhalle, in der ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett stehen. Warum sucht sie kein Einrichtungshaus auf, um es sich mit Kissen, Vorhängen und Topfpflanzen bequem zu machen?

Gianna Molinari: Sie kommt ja wirklich mit nichts hin. Sie bringt keine eigenen Gegenstände mit und hat ihr altes Leben hinter sich gelassen. Sie ist eine Figur, der das neue Umfeld sehr wichtig ist. Und es ist eine Figur, die es nicht unbedingt braucht, sich ganz häuslich einzurichten. Ihr ist klar, dass dieser Ort nur eine Station sein wird, eine Station von vielen weiteren im Leben.

Wie ein Sinnbild unserer Arbeitswelt kommt mir die vor dem Aus stehende Fabrik vor, in der nur noch eine Handvoll Menschen arbeitet. Zudem produziert die Fabrik Pappkartons, letztlich leere Hülsen. Täuscht der Eindruck, dass Sie gerne in Metaphern denken?

Molinari: Der täuscht nicht. Das ist für mich das Schöne am Schreiben, Bilder und Metaphern zu finden und Dinge zu beschreiben, ohne den Finger darauf zu heben.

Wie ist es, mit dem Erstling auf so eine positive Resonanz zu stoßen?

Molinari: Ich empfinde das als sehr großes Glück. Das findet ja alles zum ersten Mal statt. Ich weiß nicht, wie es bei den nächsten Büchern sein wird. Der Tag, als ich wusste, dass das Buch in den Buchhandlungen erhältlich ist, war schon sehr aufregend und geprägt von einer gewissen Anspannung. Ob mein Buch überhaupt gelesen wird, habe ich mich gefragt. Dann war ich unglaublich glücklich, dass das Buch gelesen wurde und dass so viel herausgelesen wurde, was mir wichtig war. Es sind auch viele Nebenschauplätze in dem Buch entdeckt und besprochen worden. Das ist sehr, sehr schön und macht Mut fürs Weiterschreiben.

Eine der Hauptfiguren ist ein Wolf, der in dieses Fabrikgelände eindringt. Der Kantinenkoch will ihn gesehen haben und weckt damit Urängste. Fürchten Sie die menschenbedrohende Naturgewalt dieses Wildtiers oder suchten Sie nach einer mit Mystik beladenen Figur?

Molinari: Ich suchte nach einer ambivalenten Figur. Und ich suchte nach einer Figur, die bei den Lesern und den anderen Figuren des Buches schon ganz viele Bilder, Definitionen, Meinungen und Gefühle erzeugt hat. Mir war wichtig, dass der Wolf schon so viele Identitäten hat, mit denen ich spielen kann. Diese Figur ist so reich an Geschichten. So wird der Wolf für die Ich-Erzählerin zu einer Art Begleiter, sinnstiftend auf gewisse Art und Weise. Es gibt ja in der Fabrik für sie nichts zu tun. Nicht mal Einbrecher sind da. Der Wolf bringt wieder Leben in die Fabrik. Er ist ein Eindringling, der sehr viel mitbringt und die Fabrik ein wenig aufmischt.

Nicht nur der Wolf verlässt sein Habitat, sondern auch der Mann, der vom Himmel fällt. Was hat Sie veranlasst, die wahre Begebenheit eines Flüchtlings, der aus dem Fahrwerkraum eines Flugzeugs in den Tod fällt,literarisch aufzugreifen?

Molinari: Die Thematik der Grenzen, die mich als Autorin und als Mensch beschäftigt. Die Grenzen, die in der Fabrik mit ihrem Zaun, mit dem Innen und Außen auftauchen, stellen die Frage, wer wo leben und sich frei bewegen darf und wer nicht. Das sind Fragen, die auch in der Geschichte des Mannes, der vom Himmel fiel, sehr präsent sind. Und dann war es für mich interessant, das Dokumentarische in die Literatur zu tragen, die Geschichte durch die Literatur noch einmal zu erzählen.

In einem „Universal-General-Lexikon“ notiert ihre Protagonistin neue Gedanken und fertigt allerlei Zeichnungen an. Viele dieser Skizzen finden wir in Ihrem Buch. Führen Sie selbst solch einen Band mit sich?

Molinari: Mein Band heißt nicht „Universal-General-Lexikon“, aber ich bin auch eine Sammlerin. Da haben die Ich-Erzählerin und ich gewisse Ähnlichkeiten. Ich sammle viele Zeitungsartikel, Skizzen und Bilder, die mir wichtig sind. Ich sammle nicht ganz so nach Plan wie die Ich-Erzählerin, aber ich habe viele Dinge um mich herum, die mir ein kleines Universum sind.

Ihre Nachtwächterin gibt wenig von sich preis. Das ist ungewöhnlich in einer Zeit, in der Menschen in sozialen Netzwerken nahezu jede Mahlzeit mit Foto ins Netz stellen...

Molinari: Die Frage nach der eigenen Identität, nach den vielen Identitäten, die eine einzige Person haben kann, sind Thema des Romans. Die Ich-Erzählerin sagt, dass sie nicht einen Lebenslauf, nicht eine Geschichte haben möchte, sondern viele Geschichten gleichzeitig. Dennoch gibt die Figur wenig von sich preis. Sie teilt ihr eigenes, vergangene Leben nicht mit anderen, aber sie nimmt Teil und möchte Teil werden von Geschichten rund um sich herum. Die Figur ist eine, die unabhängig von ihrer Vergangenheit in die Welt schauen kann – mit einem neugierigen und unbefangenen Blick. Das steht im großen Kontrast zum Wolf, der viele Geschichten und Identitäten schon hat.

Sie erzählen in einer erfrischend unprätentiösen Sprache. Hätten Sie nicht Lust, über den Klimawandel zu schreiben oder Plastik in den Weltmeeren?

Molinari (lacht): Wie kommen Sie genau auf das?

Es sind wichtige Themen der Zeit.

Molinari: Das Sichtbare und das Unsichtbare sind ein Grundthema, dass mich sehr interessiert. Darum wäre Plastik ein Riesenthema – oder das Schmelzen der Gletscher und was darunter zum Vorschein kommt. Es wird sicher so bleiben, dass die Themen, die ich in meinen Texten aufgreife, mit dieser Welt zu tun haben und mit uns, die wir auf dieser Welt leben.

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